Die
Entsetzung von Przemysl
Kriegspressequartier,
18. Oktober.
Gestern konnte ich eine Reihe authentischer Mitteilungen über
den Verlauf der Einschließung Przemysls erfahren, die ein ziemlich
vollständiges und verläßliches Bild des Ganzen geben.
Am 16. September zeigten sich die ersten Kosakenpatrouillen im weiteren
Umkreise der Festung, das heißt, ihre Anwesenheit wurde von unseren
Kavalleriepatrouillen gemeldet. Am 17. September verließ der letzte
Eisenbahnzug mit dem Bahnpersonale die Stadt, ohne irgendwie auf den Gegner
zu stoßen. Erst am 18. September zeigten sich neuerlich Kosakenabteilungen,
die sich sehr vorsichtig näherten. Später folgten bereits gemischte
Detachements auf allen Anmarschlinien. Ihre Verteilung und Instradierung
zeugte von sorgfältiger und wohldurchdachter Vorbereitung, ebenso
die Art der in den Tagen bis zum 22. September so ziemlich beendeten weiten
Einschließung des Festungsgebietes. Es waren von den Russen hierzu
etwa fünf Armeekorps verwendet worden, die sich in der letzten Septemberwoche
allseits vorzuarbeiten suchten. Die ungemein offensiv geführte Verteidigung
Przemysls erschwerte dies, jedoch außerordentlich durch zahlreiche
Ausfälle und sehr wirksames Feuer aus den vorgeschobenen Stellungen.
Hiermit begann bereits die Periode sehr schwerer Verluste für die
Russen, die sich schließlich auf mindestens vierzigtausend Mann
mit einem abnormen Prozentsatz an Toten beliefen.
Am 2. Oktober sandte der Kommandant der Belagerungsarmee, der frühere
bulgarische Gesandte in Petersburg, General Radko Dimitriew, einen Oberleutnant
des Generalstabes als Parlamentär mit der Aufforderung
zur Übergabe in die Festung. Der Festungskommandant Feldmarschalleutnant
Kusmanek von Burgneustätten erteilte die bereits bekannt gewordene
Antwort, die es überhaupt ablehnte, auf das russische Ansinnen einzugehen.
In der Festung herrschte Stimmung, als diese gebührende Antwort bekannt
wurde und zwar nicht allein bei der Besatzung, sondern auch in der Bevölkerung,
die sich überhaupt musterhaft benahm, da alle verdächtigen Elemente
abgeschoben worden waren.
Tags darauf begann die Beschießung der Festung mit den schweren
Kalibern, die mittlerweile mit großer Umsicht in Stellung gebracht
worden waren. Es wird erzählt, daß sich die Russen im Besitze
ausgezeichneter Informationen über alle Einzelheiten der Befestigungsanlagen
befunden haben müssen, da sie ihre Batterien nicht nur fast durchwegs
mustergültig und mit ihren Kalibern genau den zu bekämpfenden
Zielen entsprechend eingebaut hatten, sondern auch Objekte beschossen,
deren genaue Lage und Bestimmung ihnen sonst unmöglich bekannt sein
konnten. Die russischen Stellungen waren durchweg vorzüglich maskiert
und nur mit größter Mühe zu entdecken. Es soll nun an
General Dimitriew der Befehl ergangen sein, die Festung unbedingt bis
8. Oktober zu nehmen. Tatsächlich begann am 5. Oktober ein allgemeiner
Angriff gegen alle Fronten, der sich schließlich gegen die Südostfront
der Festung am entschiedensten aussprach. Man gewann den Eindruck, daß
General Dimitriew, vielleicht noch angeregt durch den raschen Erfolg bei
Lüttich, seinen vor Adrianopel erworbenen Ruhm hier auch durch einen
gewaltsamen Angriff, wie der Fachausdruck lautet, krönen wollte.
Es wurden nämlich vom 6. Oktober an durch volle 72 Stunden alle Mittel
in rücksichtslosester Weise aufgeboten, um die Festung zu Fall zu
bringen. Artilleristisch waren die Russen sehr gut vorgesehen, sie hatten
außer ihrer ohnehin sehr zahlreichen und guten Feldartillerie noch
einen reichen Belagerungspark von 15, 18, 21 und 24-Zentimeter-Kaliber,
ferner eine Menge von Marinegeschützen in Tätigkeit, die alle
Werke mit größter Präzision ununterbrochen unter Feuer
hielten, um das Herankommen der Infanterie auf Sturmstellung zu ermöglichen
und unsere Verteidigungsmittel bis dahin möglichst zu vernichten
oder ihre Wiederherstellung unmöglich zu machen. Alles scheiterte
aber an der wirklich überlegenen Ruhe unserer Offiziere und Mannschaften
in der Verteidigung. Die Leute schossen sorgfältig wie nach Scheiben,
sodaß sogar das Infanteriefeuer enorme Erfolge hatte, von der Wirkung
der Geschütz- und Maschinengewehre gar nicht zu reden. Gefährlich
wurde die Situation nur an der Südostfront, wo die Russen mit wahrhaft
verzweifeltem Mute unter entsetzlichen Opfern vorgingen. Gegen ein einziges
Fort daselbst, das schwächste dieses Abschnittes, wurden elf Bataillone
angesetzt, von denen sich etwa 150 Mann schließlich einzeln kriechend
ungesehen bis zur Kehle schlichen und plötzlich oben auf dem äußeren
Wall auftauchten. Unsere geringe Besatzung an dieser Stelle mußte
sich in die Kehlkoffer und Kasematten zurückziehen. Die Russen drängten
sofort nach und es begann ein wahres Schlachten mit Bajonetten und Kolben,
da Feuerwaffen in diesem Handgemenge nicht anwendbar waren. Unsere ganze
Besatzung zählte nur hundert Mann und wehrte sich verzweifelt, so
daß schließlich alle eingedrungenen Russen tot oder gefangen
waren. Alle Gräben des Forts und die Drahthindernisse vor ihm waren
mit Haufen von Leichen bedeckt. Ein einziger Mann namens Suchy schoß
allein zuerst den kommandierenden Major und noch über 40 Russen nieder.
Ein anderer, der sich gleichfalls an einer günstigen Stelle befand,
arbeitete ähnlich mit Handgranaten. Schließlich, nach mehr
als dreistündigem Kampfe, hörte das Nachfluten der Eindringlinge
auf und das kleine Vorwerk war endgültig frei.
Am stärksten war ein Fort der Nordfront mitgenommen worden. Etwa
250 Treffer wurden darin erzielt. Merkwürdigerweise war aber die
Wirkung relativ gering trotz der schweren Kaliber. Zwei auf offenem Wall
stehende leichte Geschütze waren demontiert, die Erde war vielfach
durch tiefe Trichterbildungen aufgewühlt, Betonbauten und Panzerkuppeln
aber blieben völlig unversehrt, sodaß die Kampffähigkeit
des Werkes nicht gelitten hatte. Ich sah dort einen sehr merkwürdigen
Zufallstreffer. Eine Granate war direkt in eine Scharte eingedrungen und
hatte einen Mann getötet. Dies war der einzige Tote in jenem Werke,
wo überhaupt sonst nur einige Dutzend Mann verwundet wurden. Ein
Beweis für die Schußpräzision war das Trefferbild, das
vom Walle aus sehr gut zu sehen war. Alle Schüsse saßen symmetrisch
zu beiden Seiten der Mittellinie, die Flanken wiesen fast keine Treffer
auf. Die aus Honvedtruppen bestehende Besatzung erzählte, daß
die in den Kasematten dienstfrei ruhende Mannschaft nur in der ersten
Nacht wegen der ungeheuren Detonationen der einschlagenden Bomben nicht
schlafen konnte. Später gewöhnten sich die Leute daran und schliefen
ruhig, da sie sich von der Widerstandsfähigkeit der Decken überzeugt
hatten.
Am 8. Oktober ließ der russische Angriff an Heftigkeit nach. Der
Rückzug begann. Er artete an manchen Stellen bald zur Flucht aus,
da die Besatzung heftig nachdrängte und unsere eigenen Entsatzkräfte
von Westen fühlbar wurden. Es wurden eine Menge von schweren Geschützen
erbeutet, die von den Russen nicht mehr mitgenommen werden konnten, auch
zahlreiche Gefangenen wurden bei den verschiedenen Ausfällen gemacht.
Die Verluste der Besatzung Przemysl betrugen insgesamt etwa 600 Mann,
sind also minimal. Am 11. Oktober fanden noch feierliche Dankgottesdienste
statt und zahlreiche Abordnungen erschienen beim kommandierenden General,
um ihm den Dank für die rasche Aufhebung der Belagerung auszusprechen.
Es wird nunmehr in der Umgebung der Festung, hauptsächlich im Osten
gekämpft, wo die Russen mit größter Zähigkeit Widerstand
leisten. Man hört den Kanonendonner sehr deutlich. Gestern Abend
fand noch ein Rückzugsgefecht im Norden der Festung statt, da die
Russen ihre nächst Radymno geschlagene Brücke über den
San verteidigten. Ich stand auf dem Kirchturme von Radymno, doch war wegen
der einbrechenden Dunkelheit außer einigen Schwarmlinien unserer
Infanterie und dem Aufblitzen des Geschützfeuers nicht viel zu sehen.
Der Ort selbst hatte arg gelitten. Bei der Rückkehr nach Przemysl
konnte ich mich neuerlich von der guten Stimmung unserer braven Soldaten
überzeugen. Sie waren den ganzen Tag marschiert und schritten noch
am Abend raumgreifend und in tadelloser Marschordnung aus, obwohl man
vielen die Ermüdung ansah. Keiner von den vielen wollte zurückbleiben.
Freiherr
K. v. Reden,
Kriegsberichterstatter. 2)
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