Sturz
des Kabinetts Salandra

Salandra
Mailand,
11. Juni. (Priv.-Tel.)
Die Opposition, die gestern den Sturz des Kabinetts herbeiführte,
besteht aus der gesamten Linken, umfassend die kriegsgegnerischen
Sozialisten, die Radikalen und Reformisten, die Demokraten, ferner
dreißig Giolittianern, einigen Nationalisten, vereinzelten
Abgeordneten der Rechten und den Katholiken. Auch Luzzatti mit
seinen nächsten Freunden stimmte gegen Salandra. Dagegen erhielt
Salandra das Votum vereinzelter Giolittianer. Der tiefere Grund, der
Salandra stürzte, nachdem er monatelang aller Opposition
standgehalten hatte, war der Erfolg der österreichischen Offensive
und seine unbefriedigenden Erklärungen vor der Kammer. Nachdem
Salandra beklagt hatte, daß alarmierende Nachrichten und Urteile
auch von Leuten verbreitet würden, die sich dank ihrer politischen
und sozialen Stellung den gesetzlichen Strafbestimmungen entziehen könnten,
gestand er unumwunden ein, die österreichischen Erfolge wären
verhindert worden, wenn die Verteidigung Südtirols besser angelegt
gewesen wäre. Das rief um so mehr einen peinlichen Eindruck hervor,
als die Kammer darin einen Versuch erblickt, das Oberkommando zu
diskreditieren, so daß Salandra nochmals sprechen und feststellen
mußte, er habe nicht das Oberkommando tadeln, sondern nur die
Ansicht des Oberkommandos wiedergeben wollen. - Der Fall des
Ministeriums in dieser kritischen Stunde ruft fast Bestürzung
hervor. "Corriere della Serra" fühlt einen ähnlichen
Schmerz wie im Mai 1915, als Giolittis Neutralität zu siegen
schien. Er beklagt, daß das Parlament gerade jetzt die Regierung stürzt,
und befürchtet den schlechten Eindruck im Auslande und beim Heere.
Während sich alle anderen Parlamente in der Gefahr enger an die
Regierungen anschlossen, entläßt das italienische das Kabinett
unter dem Drucke der feindlichen Waffen, und während der Feind auf
italienischem Boden steht. "Secolo", der die Opposition führte,
schiebt die Schuld an der Krise dem Ministerium selbst zu, dessen
diplomatische, politische und militärische Geschäftsführung unglücklich
gewesen sei, so daß es die eigene Schuld an dem österreichischen
Erfolge habe eingestehen müssen. Die nationalistischen Blätter
rufen nach einem breiten "nationalen" Ministerium, das den
Krieg energischer weiterführe als Salandra. Besonders heftig ist
"Popolo d´ Italia", das Bissolati vorschlägt und
wiederum mit Revolution droht, wenn eine gemäßigtere Richtung,
beispielsweise Giolitti, auftauchen sollte.
Bern, 11. Juni. (W. B.)
"Messaggero" berichtet:
Unmittelbar nach der gestrigen Kammersitzung berief Salandra die
Minister zusammen. Nach kurzem Meinungsaustausch wurde man sich über
die Demission des Kabinetts schlüssig. Salandra wird die Demission
am Montag der Kammer und am Dienstag dem Senat bekanntgeben. Nach
dem Ministerrat verfaßte Salandra eine lange Depesche an den König,
der heute abend oder morgen früh in Rom eintreffen wird, um die üblichen
Besprechungen zu beginnen.
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