Die
vorläufige Einigung mit Rußland
Ausscheidung
von Polen, Litauen, Kurland, Teilen Estlands und Livlands aus dem
russischen Reiche
Brest-Litowsk,
28. Dezember.
Im Laufe der heute vormittag abgehaltenen Besprechungen zwischen
den Delegationen der Verbündeten und Rußlands wurde in einer
ganzen Reihe wichtiger Punkte die Basis für eine Einigung
geschaffen. In der wichtigen Frage der Behandlung der beiderseits
besetzten Gebiete wurde von russischer Seite folgender Vorschlag
gemacht: In voller Übereinstimmung mit der offenen Erklärung der
beiden vertragschließenden Teile, daß ihnen kriegerische Pläne
fernliegen, und daß sie einen Frieden ohne Annexionen schließen
wollen, zieht Rußland seine Truppen aus den von ihnen okkupierten
Teilen Österreich-Ungarns, der Türkei und Persiens zurück, und
die Mächte des Vierbundes aus Polen, Litauen, Kurland und anderen
Gebieten Rußlands. Entsprechend den Grundsätzen der russischen
Regierung, die das Recht aller in Rußland lebenden Völker ohne
Ausnahme auf Selbstbestimmung bis zur Absonderung verkündet hat,
wird der Bevölkerung dieser Gebiete die Möglichkeit gegeben
werden, binnen kürzester, genau bestimmter Frist vollkommen frei
über die Frage ihrer Vereinigung mit dem einen oder anderen Reiche
oder über die Bildung eines selbständigen Staates zu entscheiden.
Hierbei ist die Anwesenheit irgendwelcher Truppen in den
abstimmenden Gebieten nicht zulässig, außer von nationalen oder
örtlichen Milizen. Bis zur Entscheidung dieser Fragen aber liegt
die Verwaltung dieser Gebiete in den Händen von in demokratischer
Weise gewählten Vertretern der örtlichen Bevölkerung selbst. Die
Frist der Räumung nebst den näheren Umständen und dem Beginn und
Verlauf der Demobilisation des Heeres wird durch eine besondere
militärische Kommission bestimmt. Demgegenüber schlug Deutschland
vor, den ersten beiden Artikeln des zu schaffenden
Präliminarvertrages nachstehende Fassung zu geben:
Artikel 1. Rußland und Deutschland erklären die Beendigung des
Kriegszustandes. Beide Nationen sind entschlossen, fortan in Frieden
und Freundschaft zusammenzuleben. Deutschland würde (unter der
Voraussetzung der zugestandenen vollen Gegenseitigkeit gegenüber
seinen Bundesgenossen) bereit sein, sobald der Frieden mit Rußland
geschlossen und die Demobilisierung der russischen Streitkräfte
durchgeführt ist, die jetzigen Stellungen und das besetzte
russische Gebiet zu räumen, soweit sich nicht aus Artikel 2 ein
anderes ergibt.
Artikel 2. Nachdem die russische Regierung, entsprechend ihren
Grundsätzen, für alle im Verbande des russischen Reiches lebenden
Völker ohne Ausnahme ein bis zu ihrer völligen Abänderung
gehendes Selbstbestimmungsrecht proklamiert hat, nimmt sie Kenntnis
von den Beschlüssen, worin der Volkswille ausgedrückt ist, für
Polen sowie für Litauen, Kurland, Teile von Estland und Livland die
volle staatliche Selbständigkeit in Anspruch zu nehmen und aus dem
russischen Reichsverbande auszuscheiden.
Die russische Regierung erkennt an, daß diese Kundgebungen unter
den gegenwärtigen Verhältnissen als Ausdruck des Volkswillens
anzusehen sind, und ist bereit, die hieraus sich ergebenden
Folgerungen zu ziehen. - Da in denjenigen Gebieten, auf welche die
vorstehenden Bestimmungen Anwendung finden, die Frage der Räumung
nicht so liegt, daß diese gemäß den Bestimmungen des Artikels 1
vorgenommen werden kann, so werden Zeitpunkt und Modalitäten der
nach russischer Auffassung nötigen Bekräftigung der schon
vorliegenden Lostrennungserklärungen durch ein Volksvotum auf
breiter Grundlage, bei der irgendein militärischer Druck in jeder
Weise auszuschalten ist, der Beratung und Festsetzung durch eine
besondere Kommission vorbehalten.
Eine im wesentlichen gleichlautende Formulierung wurde
österreichisch-ungarischerseits vorgeschlagen.
Die russische Delegation nahm diese Erklärungen zur Kenntnis und
stellte ihre Auffassung daraufhin wie folgt fest: "Wir stehen
auf dem Standpunkt, daß als tatsächlicher Ausdruck des
Volkswillens nur eine solche Willenserklärung betrachtet werden
kann, die als Ergebnis einer bei gänzlicher Abwesenheit fremder
Truppen in den betreffenden Gebieten vorgenommenen freien Abstimmung
erscheint. Daher schlagen wir vor und bestehen darauf, daß eine
klarere und genauere Formulierung dieses Punktes erfolgt. Wir sind
jedoch damit einverstanden, daß zur Prüfung der technischen
Bedingungen für die Verwirklichung eines derartigen Referendums,
desgleichen zur Festsetzung einer bestimmten Räumungsfrist eine
Spezialkommission eingesetzt wird."
Im allgemeinen kann nach dem Verlauf der bisherigen Verhandlungen
mit Befriedigung festgestellt werden, daß die Ansichten der
vertretenen Mächte über die Regelung der wichtigsten Fragen sich
in vielen Punkten decken, in anderen sich derart genähert haben,
daß die Hoffnung auf Erzielung eines Einvernehmens auch in diesen
begründet ist. 1) |