Die Räumungsfrage bei den Verhandlungen in Brest-Litowsk
Brest-Litowsk, 16. Januar.
Am 15. d. M. haben zwei weitere Sitzungen der deutsch - österreichisch
- ungarisch - russischen Kommissionen zur Regelung der territorialen und politischen Fragen stattgefunden.
Bei der Erörterung des vom Staatssekretär v. Kühlmann gemachten Vorschlages, für die Vornahme der entscheidenden Abstimmungen in den besetzten Gebieten den Zeitraum zwischen dem Abschluß des Friedens mit Rußland und spätestens einem Jahr nach dem allgemeinen Friedensabschluß anzusetzen, schnitt Herr Trotzki sofort die Räumungsfrage an. Er führte aus, daß die Frage der Regelung der Geschicke der jetzt besetzten Gebiete im Zusammenhang gebracht werden müsse mit dem Friedensschluß an der Ostfront.
Staatssekretär v. Kühlmann wies demgegenüber zunächst darauf hin, es liege schon ein großes Entgegenkommen darin, daß die Verbündeten sich bereit erklärt hätten, die unter dem Artikel 1 der deutsch-österreichisch-ungarischen Formulierung fallenden Gebiete bereits nach Abschluß der russischen Demobilisierung ohne Rücksicht auf den Fortgang des Weltkrieges zu räumen.
Ein weiteres Entgegenkommen seitens der Verbündeten in diesem letzteren Punkte halte er nicht für ausgeschlossen, falls man in den anderen Punkten zu einer Übereinstimmung gelange. Doch müsse er es als ausgeschlossen bezeichnen, für die Räumung der in Artikel 2 des deutsch-österreichisch-ungarischen Entwurfs angeführten Gebiete einen Zeitpunkt ins Auge zu fassen, der nicht mit Abschluß des allgemeinen Friedens rechne. Es sei untunlich, die militärischen Sicherungen vorzeitig zu schwächen.
Die Nachmittagssitzung wurde um 5 Uhr durch den Staatssekretär v. Kühlmann eröffnet.
Er sagte unter anderem: Die verbündeten Delegationen sind von der vollkommen aufrichtigen Absicht geleitet, für die Abstimmung bzw. Wahl das höchstmögliche Maß von absoluter politischer Freiheit herzustellen, welches mit den Umständen verträglich ist. Dies ist, wie sich aus der Natur der Sache ergibt, zum großen Teil mit eine militärische Frage.
Eine gewisse Zahl bewaffneter und disziplinierter Streitkräfte ist zur Aufrechterhaltung der
öffentlichen Ordnung notwendig. Ein Teil jetzt militärisch organisierter Kräfte ist notwendig,
um den ökonomischen Betrieb des Landes in Gang zu halten. Es wird von unserer Seite in bindender Form die Zusage gegeben werden, daß diese organisierten Kräfte in dem Gebiet, um das es sich handelt, in keiner Weise sich politisch betätigen und keinen politischen Druck ausüben dürfen.
Der Vorsitzende der russischen Delegation wandte sich zunächst wieder der Frage der Räumung der besetzten Gebiete zu. Er müsse sich erst über die Räumungsfrage völlige Klarheit verschaffen, die er bis jetzt noch nicht habe.
Staatssekretär v. Kühlmann entgegnete, er könne keine Gewähr dafür übernehmen, daß innerhalb des Zeitraumes, der für die Abstimmung praktisch in Frage komme, militärische Erwägungen eine vollkommene Räumung des Gebietes möglich erscheinen lassen würden. Das Minimalprogramm der Verbündeten sei in sorgfältigster Berücksichtigung der militärischen Notwendigkeiten aufgestellt, und zu einer Einhaltung bezw. Diskussion im einzelnen seien die Verbündeten bereit.
Nach weiteren Bemerkungen von beiden Seiten wurde die Debatte geschlossen.
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