Tannenberg
Von Generalfeldmarschall v. Hindenburg
Am
frühen Nachmittag des 23. August erreichten wir unser Hauptquartier
Marienburg. Wir betraten damit das Land östlich der Weichsel, das
demnächstige Gebiet unseres Wirkens. Die Lage an der Front hatte
sich bis zu diesem Zeitpunkt wie folgt entwickelt:
Das XX. Armeekorps war von seinen Grenzstellungen bei Neidenburg auf Gilgenburg und Gegend östlich zurückgegangen. Nach Westen anschließend
an dieses Korps standen die aus den Festungen Thorn und Graudenz herausgezogenen
Besatzungen bis gegen die Weichsel hin längs der Grenze. Die 3. Reservedivision
war als Verstärkung für das XX. Armeekorps bei Allenstein eingetroffen.
Die Heranbeförderung des I. Armeekorps nach Deutsch-Eylau hatte mit
Verzögerungen begonnen. Das XVII. Armeekorps und I. Reservekorps
waren im Fußmarsch in die Gegend um Gerdauen gekommen. Die I. Kavalleriedivision
stand südlich Insterburg der Armee Rennenkampf gegenüber. Die
Besatzung von Königsberg hatte Insterburg im Rückmarsch nach
Westen durchschritten.
Die Njemenarmee Rennenkampfs war auffallenderweise mit nennenswerten Infanterieteilen
noch nicht über die Angerapp vorgedrungen. Von den beiden russischen
Kavalleriekorps war das eine bei Angerburg, das andere westlich Darkehmen
gemeldet worden. Die Narewarmee Samsonoffs hatte mit einer Division anscheinend
die Gegend von Ortelsburg erreicht, auch sollte Johannisburg vom Feinde
besetzt sein. Im übrigen schien die Masse dieser Armee wohl noch
an der Grenze im Aufschließen begriffen, westlicher Flügel
bei Mlawa.
In der Brieftasche eines gefallenen russischen Offiziers war ein Schriftstück
gefunden worden, aus dem die Absichten der gegnerischen Führung hervorgingen.
Danach hatte die Armee Rennenkampf, die Masurischen Seen nördlich
umgehend, gegen die Linie Insterburg - Angerburg vorzurücken. Sie
sollte die hinter der Angerapp angenommenen deutschen Streitkräfte
angreifen, während die Narewarmee über die Linie Lötzen
- Ortelsburg den Deutschen die Flanke abzugewinnen hatte.
Die Russen planten also einen konzentrischen Angriff auf die 8. Armee,
für welchen die Armee Samsonoffs aber jetzt schon erheblich weiter
nach Westen ausholte, als ursprünglich beabsichtigt war.
Was sollen, ja was können wir gegen diesen gefährlichen feindlichen
Plan tun? Gefährlich weniger wegen der Kühnheit, mit der er
erdacht, als wegen der Stärke, mit der er ausgeführt werden
soll, wenigstens mit der Stärke an Streitern, hoffentlich nicht mit
der gleichen Stärke an Willen. Führte doch Rußland im
Laufe der Monate August und September nicht weniger als 800000 Soldaten
und 1700 Geschütze gegen Ostpreußen heran, zu dessen Verteidigung
nur 210000 deutsche Soldaten mit 600 Geschützen verfügbar gemacht
werden konnten.
Unser Gegenplan ist einfach. Ich will versuchen, ihn dem Leser, auch wenn
er kein Fachmann ist, in allgemeinen Umrissen verständlich zu machen.
Wir stellen zunächst der dichten Masse Samsonoffs eine dünne
Mitte gegenüber. Ich sage dünn, nicht schwach. Denn Männer
sind es mit stählernem Herzen und stählernem Willen. In ihrem
Rücken die Heimat, Weib und Kind, Eltern und Geschwister, Hab und
Gut. Es ist das XX. Korps, brave West- und Ostpreußen. Mag diese
dünne Mitte unter dem Drucke der feindlichen Massen sich auch biegen,
wenn sie nur nicht brich. Während diese Mitte kämpft, sollen
zwei wuchtige Gruppen an deren beide Flügel zum entscheidenden Angriff
heranrücken.
Die Truppen des I. Armeekorps, durch Landwehr verstärkt, auch alles
Kinder des bedrohten Landes, werden von rechts her aus dem Nordwesten,
die Truppen des XVII. Armeekorps und I. Reservekorps zusammen mit einer
Landwehrbrigade, werden von links her aus dem Norden und Nordosten zur
Schlacht herangeholt. Auch die Soldaten des XVII. Armeekorps und I. Reservekorps,
ebenso wie die Männer der Landwehr und des Landsturms haben alles,
was das Leben lebenswert macht, in ihrem Rücken.
Nicht mit einfachem Siege, sondern mit Vernichtung müssen wir Samsonoff
treffen. Denn nur dadurch bekommen wir freie Hände gegen den zweiten
Feind, der zur Zeit Ostpreußen plündert und versengt, gegen
Rennenkampf. Nur so können wir das alte Preußenland wirklich
und völlig befreien, und nur so gewinnen wir Freiheit für weitere
Taten, die man noch von uns erwartet, nämlich für das Eingreifen
in den mächtig entbrennenden Entscheidungskampf zwischen Rußland
und unserem österreichisch - ungarischen Verbündeten in Galizien
und Polen. Wird unser erster Schlag nicht durchgreifend, dann bleibt die
Gefahr für unsere Heimat wie eine schleichende Krankheit bestehen,
ungerächt bleibt das Brennen und Morden in Ostpreußen, und
vergeblich wartet der Bundesgenosse im Süden auf uns.
Also ganzes Handeln. Dazu muß alles heran, was im Bewegungskrieg
einigermaßen brauchbar ist und irgendwo entbehrt werden kann. Was
die Festungswälle von Graudenz und Thorn noch an kampftauglicher
Landwehr beherbergen, wird herangezogen. Auch aus den Schützengräben,
die zwischen den Masurischen Seen unsere jetzige Operation im Osten decken,
rücken unsere Wehrmänner ab und übergeben die dortige Verteidigung
einer verschwindenden Minderzahl braver Landstürmer. Gewinnen wir
die Feldschlacht, dann brauchen wir die Festungen Thorn und Graudenz nicht
mehr und sind der Sorgen um die Seenengen ledig.
Gegen Rennenkampf, der wie ein Alpdruck aus dem Nordosten auf uns lasten
könnte, soll nur unsere Kavalleriedivision sowie die Hauptreserve
Königsberg mit zwei Landwehrbrigaden stehenbleiben. Doch können
wir an diesem Tage noch nicht überblicken, ob diese Kräfte auch
wirklich genügen. Sie bilden in ihrer Kampfkraft ja nur einen leicht
zerreißbaren Schleier, vorausgesetzt, daß Rennenkampfs Massen
marschieren, daß seine übermächtigen Reitergeschwader
reiten sollten, so wie wir es befürchten müssen. Vielleicht
tun sie das aber nicht; dann genügt der Schleier zur Deckung unserer
Schwäche. Wir müssen es wagen in Flanke und Rücken, um
an der entscheidenden Front stark zu sein. Hoffentlich gelingt es uns,
Rennenkampf zu täuschen; vielleicht täuscht er sich selbst.
Der starke Waffenplatz Königsberg mit seiner Besatzung und unsere
Reiter können sich ja in der Phantasie des Feindes zu machtvolleren
Größen erweitern.
Wenn sich aber auch Rennenkampf zu unseren Gunsten in falschen Vorstellungen
wiegt, wird ihn nicht seine Oberste Heeresführung vorwärtstreiben
in starken Märschen nach Südwesten und in unseren Rücken?
Muß ihn nicht ein Hilfeschrei Samsonoffs in Bewegung aufs Kampffeld
setzen und wird nicht, selbst wenn der Ruf menschlicher Stimme vergeblich
verhallen sollte, der mahnende Donner der Schlacht bis zu den russischen
Linien im Norden der Seen, ja selbst bis zum feindlichen Hauptquartier
dringen?
Vorsicht gegen Rennenkampf bleibt also nötig, wir können ihr
aber nicht durch Zurücklassung starker Kampftruppen Rechnung tragen,
sonst werden wir auf dem Schlachtfelde noch schwächer, als wir es
ohnehin sind.
Berechnen wir die gegenseitigen Stärken, zählen wir zu der unserigen
auch die beiden Landwehrbrigaden, die zur Zeit von Schleswig-Holstein
her aus dem Küstenschutz heranrollen und wohl noch rechtzeitig zur
Schlacht eintreffen werden, so gibt ein Vergleich mit den wahrscheinlichen
russischen Kräften immer noch große Verschiedenheiten zu unseren
Ungunsten, auch wenn Rennenkampf nicht marschieren, nicht mitkämpfen
will. Dazu kommt, daß in unseren vordersten Reihen viel Landwehr
und Landsturm fechten muß. Alte Jahrgänge gegen beste russische
Jugend. Ferner spricht gegen uns, daß die Mehrzahl unserer Truppen
und, wie es die Lage fügt, gerade alle, die voraussichtlich den entscheidenden
Stoß führen müssen, aus schweren und verlustreichen Kämpfen
herankommen. Hatten sie doch den Russen das Schlachtfeld von Gumbinnen
überlassen müssen. Die Truppen marschieren daher nicht mit dem
stolzen Gefühle der Sieger. Und doch rücken sie zur Schlacht
frohen Sinnes und fester Zuversicht. Der Geist ist gut, so wird uns gemeldet,
also berechtigt er zu kräftigen Entschlüssen, und wo er etwa
gedrückt sein sollte, da wird er durch diese kraftvollen Entschlüsse
emporgerissen. So war es von jeher, sollte es diesmal anders sein? Ich
hatte keine Bedenken wegen unserer zahlenmäßigen Unterlegenheit.
Wer in die Rechnung des Krieges nur die sichtbaren Werte einsetzt, rechnet
falsch. Ausschlaggebend sind die inneren Werte des Soldaten. Auf diese
baue ich mein Vertrauen. Ich denke mir:
Mag der Russe auch in unser Vaterland einmarschieren mag die Berührung
mit deutscher Erde sein Herz höher schlagen lassen, sie macht ihn
nicht zum deutschen Soldaten, und die ihn führen, sind keine deutschen
Offiziere. Auf den mandschurischen Schlachtfeldern hatte der russische
Soldat mit dem größten Gehorsam gefochten, so fremd ihm auch
die politischen Absichten seiner Regierung am Stillen Ozean gewesen waren.
Es schien nicht ausgeschlossen, daß bei einem Kriege gegen die Mittelmächte
die Begeisterung der russischen Armee für die greifbarern Kriegsziele
des Zarentums größer sein würde. Trotzdem nahm ich an,
daß der russische Soldat und Offizier auch auf dem europäischen
Kriegsschauplatz im großen und ganzen keine höheren militärischen
Eigenschaften zeigen würde als auf dem ostasiatischen, und glaubte
daher, statt des Minus unserer zahlenmäßigen Unterlegenheit
ein Plus an innerer Kraft in die Berechnung der Stärkeverhältnisse
zu unseren Gunsten aufnehmen zu können.
So ist unser Plan, sind unsere Gedanken vor der Schlacht und für
die Schlacht. Wir fassen dieses Denken und Wollen am 23. August in einer
kurzen Meldung aus Marienburg an die Oberste Heeresleitung zusammen des
Inhalts:
"Vereinigung der Armee am 23. August beim XX. Armeekorps für
umfassenden Angriff geplant."
Am Abend des 23. August führte mich ein kurzer Erholungsgang auf
das westliche Nogatufer. Von dort boten die roten Mauern des stolzen Deutschordensschlosses,
des größten Baudenkmals baltischer Ziegelgotik im Abendsonnenstrahl
einen gar wundersamen Anblick. Gedanken an die Vergangenheit hehrer Ritterzeit
mischten sich unwillkürlich mit Fragen an die verschleierte Zukunft.
Der Ernst der Stimmung wurde erhöht durch den Anblick vorüberziehender
Flüchtlinge meiner Heimatprovinz. Eine traurige Mahnung, daß
der Krieg nicht nur den wehrhaften Mann trifft, sondern daß er durch
Vernichtung der Daseinsbedingungen Wehrloser zur tausendfachen Geißel
der Menschheit wird.
Am 24. August begab ich mich mit dem engeren Stabe in Kraftwagen zum Generalkommando
des XX. Armeekorps und kam hierbei in den Ort, von dem die bald entbrennende
Schlacht ihren Namen erhalten sollte.
Tannenberg. Ein Wort schmerzlicher Erinnerung für deutsche Ordensmacht,
ein Jubelruf slawischen Triumphes, gedächtnisfrisch geblieben in
der Geschichte trotz mehr als 500 jähriger Vergangenheit. Ich hatte
bis zu diesem Tage das Schicksalsfeld deutscher östlicher Kultureroberungen
noch nie betreten. Ein einfaches Denkmal zeugt dort von Heldenringen und
Heldentod. In der Nähe dieses Denkmals standen wir an einigen der
folgenden Tage, in denen sich das Geschick der russischen Armee Samsonoff
zur vernichtenden Niederlage gestaltete.
Auf dem Wege von Marienburg nach Tannenberg vermehrten sich die Eindrücke
vom Kriegselend, das über die unglücklichen Einwohner hereingebrochen
war. Massen von hilflos Flüchtenden drängten sich mit ihrer
Habe auf den Straßen und behinderten teilweise die Bewegungen unserer
an den Feind marschierenden Truppen.
Bei dem Stabe des Generalkommandos traf ich das Vertrauen und den Willen,
die für das Gelingen unseres Planes unerläßlich waren.
Auch die Eindrücke über die Haltung der Truppe an dieser unserer
zunächst bedenklichsten Stelle waren günstig.
Der Tag brachte keine durchgreifende Klärung, weder hinsichtlich
der Operationen Rennenkampfs noch der Bewegungen Samsonoffs. Es schien
sich nur zu bestätigen, daß Rennenkampfs Marschtempo ein recht
gemäßigtes war. Der Grund hierfür war nicht zu erklären.
Von der Narewarmee erkannten wir, daß sie sich mit ihrer Hauptmacht
gegen das XX. Armeekorps vorschob. Unter ihrem Drucke nahm das Korps seinen
linken Flügel zurück. Diese Maßregel hatte nichts Bedenkliches
an sich. Im Gegenteil. Der nachdrängende Feind wird unserer linken
Angriffsgruppe, die heute die Marschrichtung auf Bischofsburg erhält,
immer ausgesprochener seine rechte Flanke bieten. Auffallend und nicht
ohne Bedenken für uns waren dagegen feindliche Bewegungen, die sich
anscheinend gegen unseren Westflügel und gegen Lautenburg aussprachen.
Der Eindruck bestand, daß der Russe uns hier zu überflügeln
gedachte und damit den beabsichtigten Umgehungsangriff unserer rechten
Gruppe seinerseits in der Flanke fassen würde.
Der 25. August brachte etwas mehr Einblick in die Bewegungen Rennenkampfs.
Seine Kolonnen marschierten von der Angerapp nach Westen, also auf Königsberg.
War der ursprüngliche russische Operationsplan aufgegebene Oder war
die russische Führung über unsere Bewegungen getäuscht
und vermutete die Hauptmasse unserer Truppen in und bei der Festung? Jedenfalls
schien nunmehr kaum noch ein Bedenken vorhanden, gegen Rennenkampfs gewaltige
Massen nur einen Schleier stehen zu lassen. Samsonoffs auffallend zögernde
Operationen richteten sich auch an diesem Tage mit der Hauptstärke
weiter gegen unser XX. Armeekorps. Das rechte russische Flügelkorps
marschierte zweifellos in Richtung auf Bischofsburg, also unserem XVII.
Armeekorps und I. Reservekorps entgegen, die an diesem Tage die Gegend
nördlich dieses Städtchens erreichten. Bei Mlawa häuften
sich augenscheinlich weitere russische Massen.
Mit diesem Tage ist für uns die Zeit des Wartens und der Vorbereitung
vorüber. Wir führen unser I. Armeekorps an den rechten Flügel
des XX. heran. Der allgemeine Angriff kann beginnen.
Der 26. August ist der erste Tag des mörderischen Ringens von Lautenburg
bis nördlich Bischofsburg. Nicht in lückenloser Schlachtfront,
sondern in Gruppenkämpfen, nicht in einem geschlossenen Akt, sondern
in einer Reihe von Schlägen beginnt das Drama sich abzuspielen, dessen
Bühne sich auf mehr denn hundert Kilometer Breite erstreckt.
Auf dem rechten Flügel führt General von Francois seine braven
Ostpreußen. Sie schieben sich gegen Usdau heran, um am nächsten
Tag den Schlüsselpunkt dieses Teiles des südlichen Kampffeldes zu stürmen.
Auch General von Scholtz´ prächtiges Korps befreit sich allmählich
aus den Fesseln der Verteidigung und beginnt zum Angriff zu schreiten.
Erbitterter ist der Kampf schon am heutigen Tage bei Bischofsburg. Dort
wird bis zum Abend von unserer Seite gründliche Kampfarbeit getan.
In kräftigen Schlägen wird das rechte Flügelkorps Samsonoffs
durch Mackensens und Belows Truppen (XVII. Armeekorps und I. Reservekorps)
sowie durch Landwehr zerschlagen und weicht auf Ortelsburg. Die Größe
des eigenen Erfolges ist aber noch nicht zu erkennen. Die Führer
erwarten für den folgenden Tag erneuten starken Widerstand südlich
des heutigen Kampffeldes. Doch sie sind guter Zuversicht. Da erhebt sich
scheinbar von Rennenkampfs Seite drohende Gefahr. Man meldet eines seiner
Korps im Vormarsch über Angerburg. Wird dieses nicht den Weg in den
Rücken unserer linken Stoßgruppe finden? Ferner kommen beunruhigende
Nachrichten aus der Flanke und dem Rücken unseres westlichen Flügels.
Dort bewegt sich im Süden starke russische Kavallerie. Ob Infanterie
ihr folgt, ist nicht festzustellen. Die Krisis der Schlacht erreicht ihren
Höhepunkt. Die Frage drängt sich uns auf: wie wird die Lage
werden, wenn sich bei solch gewaltigen Räumen und bei dieser feindlichen
Überlegenheit die Entscheidung noch tagelang hinzieht. Ist es überraschend,
wenn ernste Gedanken manches Herz erfüllen; wenn Schwankungen auch
da drohen, wo bisher nur festester Wille war, wenn Zweifel sich auch da
einstellen, wo klare Gedanken bis jetzt alles beherrschten. Sollten wir
nicht doch gegen Rennenkampf uns wieder verstärken und lieber gegen
Samsonoff nur halbe Arbeit tun. Ist es nicht besser, gegen die Narewarmee
die Vernichtung nicht zu versuchen, um die eigene Vernichtung sicher zu
vermeiden. Wir überwinden die Krisis in uns, bleiben dem gefaßten
Entschlusse treu und suchen weiter die Lösung mit allen Kräften
im Angriff. Demnach rechter Flügel unentwegt weiter auf Neidenburg
und linke Stoßgruppe "um 4 Uhr morgens antreten und mit größter
Energie handeln", so etwa lautete der Befehl.
Der 27. August zeigt, daß der Erfolg des I. Reservekorps und XVII.
Armeekorps bei Bischofsburg am vorhergehenden Tage ein durchschlagender
gewesen ist. Der Gegner ist nicht nur gewichen, sondern flieht vom Schlachtfeld.
Des weiteren überblickt man, daß Rennenkampf nur in der Phantasie
eines Fliegers in unseren Rücken marschiert. In Wirklichkeit bleibt
er in langsamem Vorgehen auf Königsberg. Sieht er nicht, oder will
er nicht sehen, daß das Verderben gegen die rechte Flanke Samsonoffs
schon im vollen Vorschreiten ist, und daß es auch gegen dessen linken
Flügel andauernd wächst. Denn an diesem Tage erstürmen
Francois und Scholtz die feindlichen Stellungen bei Usdau und nördlich
und Schlagen den südlichen Gegner. Mag nunmehr die feindliche Mitte
weiter nach Allenstein - Hohenstein vordringen, sie findet dort nicht
mehr den Sieg, sondern nur noch das Verderben. Die Lage ist für uns
klar; wir geben am Abend des Tages den Befehl zum Einkreisen der Kernmasse
des Gegners, nämlich seines XIII. und XV. Armeekorps.
Während des 28. August geht das blutige Ringen weiter.
Der 29. sieht einen großen Teil der russischen Hauptkräfte
bei Hohenstein der endgültigen Vernichtung anheimfallen. Ortelsburg
wird von Norden, Willenberg über Neidenburg von Westen erreicht.
Der Ring um Tausende und aber Tausende von Russen beginnt sich zu schließen.
Viel russisches Heldentum ficht freilich auch in dieser verzweiflungsvollen
Lage noch weiter für den Zaren, die Ehre der Waffen rettend, aber
nicht mehr die Schlacht.
Rennenkampf marschiert immer noch ruhig weiter auf Königsberg. Samsonoff
ist verloren, auch wenn sein Kamerad jetzt noch zu anderer und besserer
kriegerischer Einsicht kommen sollte. Denn schon können wir Truppen
aus der Schlachtfront ziehen zur Deckung unseres Vernichtungswerks, das
sich in dem großen Kessel Neidenburg - Willenberg - Passenheim vollzieht
und in dem der verzweifelnde Samsonoff den Tod sucht. Aus diesem Kessel
heraus kommen größer und größer werdende russische
Gefangenenkolonnen. In ihrem Erscheinen tritt der reifende Erfolg der
Schlacht immer klarer zutage. Ein eigenartiger Zufall wollte es, daß
ich in Osterode, einem unserer Unterkunftsorte während der Schlacht,
den einen der beiden gefangenen russischen Kommandierenden Generale in
dem gleichen Gasthofe empfing, in dem ich im Jahre 1881 auf einer Generalstabsreise
als junger Generalstabsoffizier einquartiert gewesen war. Der andere meldete
sich am folgenden Tage bei mir in einer von uns zu Geschäftsräumen
umgewandelten Schule.
Schon während der Kämpfe konnten wir das teilweise prächtige
Soldatenmaterial betrachten, über das der Zar verfügte. Nach
meinen Eindrücken befanden sich darunter zweifellos bildungsfähige
Elemente. Ich nahm bei dieser Gelegenheit, wie schon 1866 und 1870, wahr,
wie rasch der deutsche Offizier und Soldat in seinem seelischen Empfinden
und in seinem sachlichen Erteil in dem gefangenen Gegner den gewesenen
Feind vergißt. Die Kampfeswut unserer Leute ebbt überraschend
schnell zu rücksichtsvollem Mitgefühl und menschlicher Güte
ab. Nur gegen die Kosaken erhob sich damals der allgemeine Zorn. Sie wurden
als die Ausführer all der vertierten Roheiten betrachtet, unter denen
Ostpreußens Volk und Land so grausam zu leiden hatten. Dem Kosak
schlug anscheinend sein schlechtes Gewissen, denn er entfernte, wo und
wie er immer konnte, bei drohender Gefangennahme die Abzeichen, die seine
Waffenzugehörigkeit kenntlich machten, nämlich die breiten Streifen
an den Hosen.
Am 30. August macht der Gegner im Osten und Süden den Versuch, mit
frischen und wiedergesammelten Truppen unseren Einschließungsring
von außen her zu sprengen. Aus der Richtung Ostrolenka führt
er neue starke Kräfte auf Neidenburg und Ortelsburg gegen unsere
Truppen, die schon das russische Zentrum völlig einkreisen und daher
dem anrückenden Gegner den Rücken bieten. Gefahr ist im Verzug;
um so mehr, als von Mlawa anrückende feindliche Kolonnen nach Fliegermeldung
35 km lang, also sehr stark sein sollen. Doch halten wir fest an unserem
großen Ziele. Die Hauptmacht Samsonoffs muß umklammert und
vernichtet werden. Francois und Mackensen werfen dem neuen Feind ihre
freilich nur noch schwachen Reserven entgegen. An ihnen scheitert der
russische Versuch, die Katastrophe Samsonoffs zu mildern. Während
Verzweiflung den Umklammerten ergreift, hat Mattherzigkeit die Tatkraft
desjenigen gelähmt, der die Befreiung hätte bringen können.
Auch in dieser Beziehung bestätigen die Ereignisse auf dem Schlachtfelde
von Tannenberg die alten menschlichen und soldatischen Erfahrungen.
Unser Feuerkreis um die dichtgedrängten, bald hierhin, bald dorthin
stürzenden russischen Haufen wird mit jeder Stunde fester und enger.
Rennenkampf scheint an diesem Tage die Deimelinie östlich Königsberg
zwischen Labiau und Tapiau angreifen zu wollen. Seine Kavalleriemassen
nähern sich aus Richtung Landsberg - Bartenstein dem Schlachtfeld
von Tannenberg. Wir aber haben bereits starke, siegesfrohe, wenn auch
ermüdete Kräfte zur etwaigen Abwehr bei Allenstein gesammelt.
Der 31. August ist für unsere noch kämpfenden Truppen der Tag
der Schlußernte, für unser Oberkommando der Tag des Überlegens
über Weiterführung der Operationen, für Rennenkampf der
Tag der Rückkehr in die Linie Deime - Allenburg - Angerburg.
Schon am 29. August hatte mir der Gang der Ereignisse ermöglicht,
meinem Allerhöchsten Kriegsherrn den völligen Zusammenbruch
der russischen Narewarmee zu melden. Noch am gleichen Tage erreichte mich
auf dem Schlachtfelde der Dank Seiner Majestät, auch im Namen des
Vaterlandes. Ich übertrug diesen Dank im Herzen wie in Worten auf
meinen Generalstabschef und auf unsere herrlichen Truppen.
Am 31. August konnte ich meinem Kaiser und König folgendes berichten:
"Eurer Majestät melde ich alleruntertänigst, daß
sich am gestrigen Tage der Ring um den größten Teil der russischen
Armee geschlossen hat. XIII., XV. und XVIII. Armeekorps sind vernichtet.
Es sind bis jetzt über 60000 Gefangene, darunter die Kommandierenden
Generale des XIII. und XV. Armeekorps. Die Geschütze stecken noch
in den Waldungen und werden zusammengebracht. Die Kriegsbeute, im einzelnen
noch nicht zu übersehen, ist außerordentlich groß. Außerhalb
des Ringes stehende Korps, das I. und VI. haben ebenfalls schwer gelitten,
sie setzen fluchtartig den Rückzug fort über Mlawa und Myszyniec.
Die Truppen und ihre Führer hatten Gewaltiges geleistet. Nun lagerten
die Divisionen in den Biwaks und das Dankeslied der Schlacht von Leuthen
schallte aus ihrer Mitte.
In unserem neuen Armeehauptquartier Allenstein betrat ich die Kirche in
der Nähe des alten Ordensschlosses während des Gottesdienstes.
Als der Geistliche das Schlußgebet sprach, sanken alle Anwesenden,
junge Soldaten und alte Landstürmer, unter dem gewaltigen Eindruck
des Erlebten auf die Knie. Ein würdiger Abschluß ihrer Heldentaten. |