Der
Kaukasus, Armenien und Aserbeidschan
Als
Schauplatz der Landkämpfe zwischen der Türkei und Rußland
kann, da die Haltung Bulgariens einen Durchmarsch russischer Truppen nach
Thrazien verbietet, voraussichtlich nur der große Länderraum
südlich des Kaukasus in Betracht kommen, von dem Rußland einen
als Transkaukasien bekannten Teil besitzt, während sich die Türkei
und Persien in den Rest teilen. Keine natürlichen Grenzen bestimmen
die Linien, die diese staatlichen Gebiete voneinander trennen. Mächtige
Gebirgszüge durchschneiden den ganzen Raum, aber nur die kurdistanischen
Alpen bezeichnen wenigstens streckenweise die Grenze der Türkei und
Persiens, die weit höheren Gebirge, die von der Tiefebene der Kura
als Rand eines mächtigen Hochplateaus aufsteigen, das wieder von
Gebirgszügen durchsetzt ist, die weit über Montblanchöhe
hinaufgehen, gehören ganz den Russen. Die Hochfläche wird gewöhnlich
als Armenien bezeichnet, wozu dann in geographischem Sinn auch die persische
Provinz Aserbeidschan, die um den Urmiasee gelegen ist, zu rechnen wäre,
obwohl die armenischen Siedelungen hier nur ganz vereinzelt liegen. Den
am dichtesten von Armeniern bewohnten Teil hat Rußland inne, den
umfangreicheren aber die Türkei. Zum Kaspischen und zum Schwarzen
Meere fällt dieses Hochplateau steil ab. Ein ausgesprochen kontinentales
Klima mit heißen und trockenen Sommern, aber außerordentlich
kalten Wintern kennzeichnet es. Die Bevölkerungsdichte wechselt stark;
sie ist in einigen kleineren Bezirken ziemlich dicht, wo die hydrographischen
Verhältnisse die Bebauung des Bodens ermöglichen, sinkt aber
sehr tief hinunter, wo der vorherrschende Wassermangel das Land zur Steppe
werden läßt. Nach Südosten geht dieses armenische Hochland
in die iranischen Hochtäler über, deren Charakter nicht sehr
verschieden von jenem ist. Südwestlich aber liegt Mesopotamien davor.
Nördlich liegen das ebenfalls ziemlich wasserarme Tal der Kura im
Osten und das mit Niederschlägen reich gesegnete und daher überaus
fruchtbare Tal des Rion im Westen, durch eine hohe, den Kaukasus mit dem
armenischen Nordrandgebirge, dem sogenannten "Kleinen Kaukasus"
verbindende Bergkette voneinander geschieden.
Die ersten Kämpfe, die den Türken die ersten Siege gebracht
haben, entwickelten sich zwischen den beiden Festungen von Erzerum und
Kars, den stärksten, die in dem ganzen Gebiete liegen. Erzerum schützt
das türkische Kleinasien vor einem russischen Einfall; es mußte
1878 durch den Vertrag von San Stefano ausgeliefert werden, kam aber beim
Berliner Kongreß wieder an die Türkei. Kars, das sehr starke
natürliche Stellungen bietet und in den letzten Jahren noch durch
moderne Anlagen verbessert worden sein soll, gehört seit dem letzten
russisch-türkischen Kriege zu Rußland. Die Russen haben es
an ihr Bahnnetz angeschlossen, das fast nur nach strategischen Rücksichten
angelegt, aber noch nicht ausgebaut worden ist. Vorläufig verbindet
eine einzige Linie, die von Nordwesten kommend über Wladikawkas den
Kaukasus umgeht, bei Petrowsk das Ufer des Schwarzen Meeres erreicht und
südlich von Baku ins Tal der Kura einbiegt, Russisch-Transkaukasien
mit Europa. Eine Kaukasusbahn, die von Wladikawkas mit zwei großen
Tunnels nach Tiflis führen soll, ist erst geplant. Für Truppentransporte
über das Gebirge kommen daher nur zwei Heerstraßen in Betracht,
von denen die grusinische (Wladikawkas - Tiflis) vorzüglich ausgebaut
ist, während die ossetische (Wladikawkas - Kutais) für Artillerietransporte
ungeeignet sein dürfte. Beide Straßen erreichen Paßhöhen
von über 2400 Meter, so daß sie im Winter tief verschneit sind.
Da nun die türkische Flotte im Schwarzen Meer einstweilen die russische
im Schach hält und bald die volle Herrschaft zur See erringen dürfte,
ist Rußland für alle Nachschübe auf die einzige Bahnlinie
angewiesen. Von Baku durchquert sie ganz Transkaukasien bis Batum; zwei
Anschlußlinien verbinden sie mit Kutais, der alten georgischen Hauptstadt,
und mit Poti, das vor Batum der russische Stützpunkt an dieser Küste
war. Von Tiflis aus zweigt Südwärts eine Linie ab, die in starker
Steigung das Randgebirge überwindet und bei dem befestigten Alexandropol
in die armenische Hochebene eintritt. Von hier aus führt die eine
Linie über Eriwan nach Dschulfa an die persische Grenze; ihre Fortsetzung
bis Täbris, der Hauptstadt Aserbeidschans, ist im Bau. Eine Zweite
Linie geht nach Kars; sie ist im Herbst vorigen Jahres bis Sarikamysch
weitergeführt worden, so daß die Transporte bis nahe an die
türkische Grenze herangeführt werden können. Auf halbem
Wege von dieser Endstation der russischen Bahnen und Erzerum ist Köpriköi
zu suchen, wo die Russen zurückgeschlagen worden sind. Sie haben
demnach sofort auf der nächsten Straße einen Vorstoß
nach der türkischen Festung versucht, der freilich weit vor den Befestigungswerken
schon zusammengebrochen ist. Die Besetzung von Alaschkerd und Bajasid,
wo nur schwacher türkischer Grenzschutz stand, hatte dagegen offenbar
den Zweck, einen Vorstoß der Türken gegen Eriwan mit Umgehung
von Kars zu verhindern; für einen Angriff auf Erzerum wäre die
erste Anmarschlinie (über Köpriköi) günstiger. Auch
ein Angriff von Ardahan über Olty gegen Erzerum wäre der Geländebildung
nach denkbar, aber wegen des Mangels an brauchbaren Straßen außerordentlich
schwierig. Nicht viel günstiger ist die Lage freilich für einen
türkischen Einfall, der bei Kars auf ein starkes Hindernis stößt.
Wenn die russische Okkupation von Bajasid aufgehoben wird, was nötigenfalls
ohne besondere Anstrengung zu erreichen sein dürfte, so steht freilich
den türkischen Truppen aus Erzerum der Weg nach Eriwan frei, der
aber über hohe und schwierige Pässe führt, aber auch nach
Choi, einer bedeutenden Stadt Aserbeidschans. Die Russen haben sich in
richtiger Erkenntnis der strategischen Bedeutung dieses Punktes in dem
halb unabhängigen Khan von Maku einen "Freund" geschaffen,
dessen Gefühle aber einer Belastungsprobe kaum gewachsen sein dürften.
Einstweilen hat sich die Türkei damit begnügt, den (auf unserer
Karte nicht verzeichneten) Grenzort Kotbur zu besetzen, der westlich von
Choi liegt.
Auf einen türkischen Angriff auf Aserbeidschan rechnete die russische
Presse schon vor Beginn des Krieges. Der Kurdenaufstand, der westlich
und südlich vom Urmiasee ausbrach, und die Russen zur Räumung
von Sautschbulak zwang, war das Vorspiel zum Einmarsch türkischer
Truppen, der außer bei Kotbur nunmehr auch weiter südlich erfolgt
ist, da in der Umgebung von Salmas, an der Nordwestecke des Urmiasees,
ein Gefecht stattgefunden hat. Urmia selber, wo vermutlich noch russische
Truppen stehen, dürfte daher bald von diesen geräumt werden.
Die reiche und wegen ihres Gewerbefleißes berühmte Stadt wird
dann wieder eine türkische Besatzung aufnehmen, wie einige Jahre
lang nach dem Einmarsch der Russen in Täbris. Damals tat die Türkei
einen kühnen, aber strategisch durchaus gerechtfertigten Schritt.
Um ihre Ostgrenze gegen eine Flankierung durch russische Truppen, die
einer der wichtigsten Beweggründe zur russischen Besetzung Aserbeidschans
war, schützen zu können, besetzte sie selber persische Gebietsteile
bis ans Westufer des Urmiasees. Der Balkankrieg, der die ganze Aufmerksamkeit
der Pforte auf Europa lenkte, gab den Russen die Gelegenheit die Aufhebung
dieser türkischen Schutzmaßnahme zu erzwingen, worauf dann
sofort russische Regimenter den abziehenden Türken folgten. Die Besetzung
dieses Gebietes wird den Türken nicht nur den damals entrissenen
Vorteil wiedergeben, sondern auch eine Operationsbasis für Angriffe
gegen die Südgrenze des russischen Gebietes liefern. Ob der Kriegsplan
Enver Paschas solche Operationen vorsieht, wissen wir natürlich nicht.
Mit ihrer Möglichkeit muß aber jedenfalls die russische Heeresleitung
rechnen, die dadurch zum Schutz wichtiger Interessen gezwungen wird. Die
für solche Unternehmungen einzusetzenden Streitkräfte können,
außer von Erzerum über Bajasid und Choi, auch aus Wan, dem
Mittelpunkt des türkischen Teils von Armenien, und aus Mosul herangezogen
werden; über die Grenzgebiete führen zwar keine Heerstraßen,
doch dürfte ihre Überschreitung selbst im Winter nicht unmöglich
sein, wenn die eingesessene kurdische Bevölkerung sich freundlich
verhält. Ein Einbruch über den Mittellauf des Araxs (Aras),
der etwa westlich von Dschulfa erfolgen könnte, würde ein Vorgehen
auf Kars wirksam unterstützen. Noch eindrucksvoller würde sich
ein freilich wegen der großen Entfernungen schwieriger Vormarsch
über die nordöstlichen Teile Aserbeidschans gestalten, die schon
in die Mugansteppe auslaufen, deren nördlicher Teil auf russischem
Gebiete liegt. Hier bietet die der Grenze nicht allzu ferne russische
Eisenbahn, deren Unterbrechung die ganze Herrschaft der Russen in Transkaukasien
in Frage stellen würde, ein lohnendes Ziel; eine Besetzung von Baku
würde sodann Rußland seines einzigen größeren Naphthagebietes
berauben, das während des Krieges wegen des Mangels an Brennstoffen
doppelt wichtig geworden ist. Ein Vormarsch durch diese Gebiete könnte
den türkischen Führern um so verlockender scheinen, als die
Bevölkerung, die bis 1828 zu Persien gehörte, tatarischen Stammes
und mohammedanischen Glaubens ist und den Türken sicherlich einen
freudigen Empfang bereiten würde.
Vorwiegend von Mohammedanern besiedelt ist auch das Gebiet, das von Lasistan,
dem türkischen Bergland östlich von Trapezunt aus schon jetzt
osmanische Truppen betreten haben. Artwin und Batum sind erst 1878 an
Rußland abgetreten worden; außer der künstlich geschaffenen
Hafenstadt, die Rußland überwiegend mit Griechen besiedelt
hat, ist fast alles noch mohammedanisch, wenn auch einzelne Dörfer
von christlichen Mingreliern oder Armeniern bewohnt sind. Das türkische
Vorgehen in diesem Raume richtet sich, wie aus den Berichten des großen
türkischen Hauptquartiers hervorgeht, gegen Batum, dessen Besetzung
der Flotte einen wertvollen Stützpunkt bieten und zugleich einen
kaum hoch genug einzuschätzenden moralischen Erfolg bedeuten würde.
Die Türken haben bisher, in drei Kolonnen vorgehend, Liman besetzt,
das am Meeresufer, etwa zehn Kilometer von der Grenze entfernt liegt,
sodann Kura, ein im Gebirge gelegenes Dorf, das etwa in der Mitte zwischen
Liman und Artwin zu suchen ist, und endlich bei Artwin am Oberlauf des
Tschuruk festen Fuß gefasst. Der Fluß strömt dort durch
wilde Schluchten, an deren Steilwänden die wenigen Ortschaften, darunter
auch Artwin selbst, sich terrassenförmig aufbauen. Den türkischen
Grenztruppen, die mit solchem Gelände vorzüglich vertraut sind,
dürften aber diese natürlichen Hindernisse keine unüberwindlichen
Schwierigkeiten bieten.
Die Haltung der Bevölkerung kann in dem Kampfraum südlich des
Kaukasus viel wichtiger werden als irgendwo in Europa, wo sie doch immer
noch eine bedeutende Rolle spielt. In dem von Gebirgen wild durchfurchten
Land ist jedes Heer auf das Wohlwollen der Ansässigen angewiesen.
Die Türken sind in dieser Hinsicht zweifellos im Vorteil. Auf eigenem
Gebiete haben sie höchstens mit einem passiven Widerstande eines
Teils der Armenier zu rechnen; zu feindlichen Handlungen wird sich auch
der verblendete Armenier nicht hinreißen lassen. Vielleicht werden
die Armenier sogar den Türken entgegenkommen. Sobald sie die Überzeugung
haben, in ihnen den stärkeren Teil zu sehen. Innerliche Zuneigung
knüpft sie auf keinen Fall an Russland. Die Kurden sind schon jetzt
auf die Seite der Türken getreten; die großen Opfer, die Rußland
für die Bearbeitung einiger ihrer Stämme gebracht hat, sind
verloren. Die persische und tatarische Bevölkerung Aserbeidschans
ist jetzt unbedingt türkenfreundlich. In Russisch-Transkaukasien
ist die mohammedanische Bevölkerung, die außer den schon erwähnten
Gebieten an der Südostküste des Schwarzen Meeres und im Osten,
wo sie von den Grenzen Armeniens bis an den kaspischen See sitzt, auch
noch den Osten des Kaukasus selber bewohnt und in allen übrigen Landesteilen
wenigstens mit ansehnlichen Minderheiten vertreten ist, der russischen
Herrschaft ausnahmslos abgeneigt. Der Aufstand der Daghestaner, der in
den 50er Jahren unter Schamyls Führung die Russen zu einer gewaltigen
militärischen Kraftprobe nötigte, ist noch nicht vergessen.
Aber selbst in der christlichen Bevölkerung findet Russland kaum
einen sicheren Halt. Die Armenier werden sich kaum anders verhalten als
die in der Türkei; ein Teil ihrer Jugend würde vielleicht eine
entscheidende Niederlage der Russen als Signal zu einem Aufstande benützen,
dessen Ziele aber ganz unklar wären. Die Georgier, die westlich von
Tiflis bis ans Meer und nördlich bis über die Pässe des
Kaukasus wohnen, neben den mohammedanischen Bergvölkern gewiß
die tapfersten aller Kaukasier, sind politisch und sozial viel zu sehr
zersplitterter, als daß sie sich zu einer einheitlichen Aktion zusammenschließen
könnten. Ihre große Mehrheil ist aber unbedingt russenfeindlich;
separatistische Neigungen würden gewiß auftauchen, wenn die
Lage der russischen Herrschaft kritisch würde.
Klima und Bodengestaltung bedingen in dem ganzen Raum, der für die
türkisch russischen Kämpfe in Betracht kommt, eine vorsichtige
und nichts überstürzende Kriegsführung, die zwar kaum den
Charakter langer Positionskämpfe annehmen wird, aber dennoch in weit
langsamerem Tempo zu Entscheidungen führt, als wir es auf den Schlachtfeldern
Polens sehen. Das wird man bei der Bewertung der kommenden Kriegsereignisse
sich vor allem vor Augen halten müssen. 2)
|