Der
Winterfeldzug in Ostpreußen
I.
Aus
dem Großen Hauptquartier wird dem "W. T. B." geschrieben:
Seit Monaten waren unsere unter den Befehlen des Generals v. Below in
Ostpreußen stehenden Truppen auf verteidigungsweises Verhalten angewiesen.
Aus 50 Prozent Landwehr-, 25 Prozent Landsturm- und 25 Prozent anderen
Truppen zusammengesetzt, verteidigten diese Truppen die Lande östlich
der Weichsel, vor allem die Provinz Ostpreußen erfolgreich gegen einen
mehrfach überlegenen Feind, dessen Stärke in sechs bis acht Armeekorps
Anfang Februar noch etwa rund 200000 Mann betrug. Die numerische Überlegenheit
der Russen war auf diesem Kriegsschauplatz eine so große, daß die deutschen
Truppen starke natürliche Stellungen aufsuchen mußten, die sich an den
großen Masurischen Seen und hinter der Angerapp-Linie anboten. Das Land
zwischen diesem Gebiet und der Grenze mußte dem Feinde überlassen werden.
In wiederholten Angriffen versuchte dieser sich in den Besitz der befestigten
Stellungen der Deutschen zu setzen. Trotzdem er hierzu stets an Zahl überlegene
Kräfte aufbot, wurden alle seine Angriffe, die sich mit Vorliebe gegen
den Brückenkopf von Darkehmen und den rechten deutschen Flügel auf den
Paprodtker Bergen richteten, stets abgeschlagen. Bis zur Brust im Wasser,
durchwateten am ersten Weihnachtsfeiertag Teile des dritten sibirischen
Korps das Sumpfgelände des Nietlitzer Bruchs. Ihr Angriff wurde ebenso
abgewiesen, wie die noch im Januar und Februar gegen den linken deutschen
Flügel versuchten Offensivunternehmungen.
Anfang Februar war endlich die Zeit gekommen, wo frische deutsche Kräfte
verfügbar wurden, um nach dem ostpreußischen Kriegsschauplatz gebracht
und dort zu einer umfassenden Bewegung gegen die Russen eingesetzt zu
werden. Das Ziel dieser Operation war neben dem in erster Linie erstrebten
Waffenerfolge die Säuberung deutschen Gebiets von dem russischen Eindringling,
der hier schrecklich gehaust hatte.
Wohl verschleiert durch die deutschen Stellungen und Grenzschutztruppen
und sorgfältig vorbereitet, vollzog sich in den ersten Februartagen hinter
den beiden deutschen Flügeln die Versammlung der zur Offensive bestimmten
Truppen. Am 7. Februar trat der Südflügel zum Angriff an, etwas später
setzte sich die Nordgruppe - diese aus der Gegend von Tilsit - in Bewegung.
Die Erde war mit Schnee bedeckt und scharf durchfroren, alle Seen waren
von dickem Eise bedeckt. Am 5. Februar war außerdem erneuter Schneefall
eingetreten, der das ganze Gelände mit einer außerordentlich hohen Schneedecke
überzog; endlich setzte unmittelbar nach diesem Schneefall erneut Frost
und mit ihm ein eisig kalter Wind ein, der an vielen Stellen zu den stärksten
Schneeverwehungen führte und damit den Verkehr auf Bahnen und Straßen
ganz besonders erschwerte, ja den Kraftwagenverkehr gänzlich ausschloß.
Die deutsche Führung hatte sich aber auf die besonderen Schwierigkeiten
eines Winterfeldzuges wohl vorbereitet. Die Truppen waren mit warmer Bekleidung
ausgestattet. Tausende von Schlitten, Hunderttausende von Schlittenkufen
waren bereitgestellt worden. Um an die feindlichen Hauptkräfte heranzukommen,
hatte der deutsche Südflügel zuerst die 40 Kilometer tiefe Waldzone des
Johannisburger Forstes und dann den Pisseck zu überschreiten, der den
Ausfluß des Spirdingsees bildet und auf russischem Gebiete als Pissa dem
Narew zustrebt. Der Feind hatte sowohl im Walde seine Verhaue angelegt
als auch die Pisseck-Übergänge besetzt und befestigt. In Johannisburg
und Bialla lagerten stärkere russische Truppen. In einem der von ihnen
besetzten Orte war für den Sonntag Abend ein Tanzfest angekündigt, als
gerade an diesem Tage - völlig überraschend für die Truppen sowohl als
für die Führung - die deutsche Offensive einsetzte.
In aller Stille brachen sich die deutschen Angriffskolonnen ihre Bahn
und gewannen am Nachmittag Fühlung mit dem Feind. Die jungen Truppen des
Generals v. Litzmann erzwangen sich am Nachmittag und in der Nacht zum
8. bei Wrobeln den Übergang über den Pisseck. Trotz stark verschneiter
Wege und heftigen Schneetreibens, das den ganzen Tag anhielt und die Bewegungen
erheblich verzögerte, haben Teile dieser Truppen an diesem Tage 40 Kilometer
zurückgelegt. Die kampferprobten Truppen des Generals v. Falck waren an
diesem Tage bis dicht an Johannisburg herangekommen und nahmen Snopken
im Sturm, wobei dem Feind die ersten Gefangenen (2 Offiziere, 450 Mann)
und zwei Maschinengewehre abgenommen wurden. Am nächsten Tage setzten
die deutschen Truppen den Kampf um die Gewinnung des Pisseck-Abschnittes
fort. Die südliche Kolonne des Generals v. Litzmann war gerade im Begriffe,
bei Gehsen das östliche Flußufer zu betreten, als sie plötzlich in ihrer
rechten Flanke vom Feind angegriffen wurde, der aus Kolno gekommen war.
Sofort wandten sich die deutschen Truppen gegen diesen Gegner und warfen
ihn wieder dorthin zurück, woher er gekommen war. 500 Gefangene, 5 Geschütze,
2 Maschinengewehre, zahlreiche Munitionswagen und sonstiges Material blieben
in der Hand der Deutschen, während die Nachbarkolonne an diesem Tage bei
Wrobeln 300 Gefangene machte und General Falck Johannisburg erstürmte,
das von zwei russischen Regimentern verteidigt wurde. Hier verlor der
Feind 2500 Gefangene, 8 Geschütze und 12 Maschinengewehre. Die Pisseck-Linie
war am 8. Februar in deutscher Hand. Am 9. begann der Vormarsch auf Lyck.
Bialla wurde noch an diesen Tagen von den Russen gesäubert. Wiederum fielen
300 Russen in deutsche Gefangenschaft.
Indessen war auch der Nordflügel nicht müßig geblieben. Die hier zum Angriff
bestimmten Truppen hatten sich zunächst in den Besitz der befestigten
Stellungen des russischen rechten Flügels zu setzen, die sich von Spullen
aus zum Schoreller Forst und von dessen Nordsaum fast bis zur russischen
Grenze erstreckten. Für den Angriff gegen die Stellungen, die mit Drahthindernissen
wohl versehen waren, war der 9. Februar in Aussicht genommen. Als sich
aber beim Feinde Anzeichen rückgängiger Bewegungen bemerkbar machten,
schritten die Truppen, obwohl sie zum Teil weder über ihre Maschinengewehre
noch über ihre ganze Artillerie verfügten, schon am Nachmittag des 8.
Februar zum Angriff. Am 9. Februar waren die feindlichen Stellungen genommen;
der Feind ging in südöstlicher Richtung zurück. Die deutschen Truppen
folgten in Gewaltmärschen. Trotz der allergrößten Schwierigkeiten, die
diesen Märschen die Naturgewalten entgegenstellten, erreichten die deutschen
Marschkolonnen am 10. die Linie Pillkallen-Wladislawow und am 11. die
große Straße Gumbinnen-Wylkowyszki. Der rechte Flügel hatte bis zur Einnahme
von Stallupönen fast 4000 Gefangene gemacht, 4 Maschinengewehre und 11
Munitionswagen genommen. Die Mitte zählte bei der Wegnahme von Eydtkuhnen,
Wirballen und Kibarty 10000 Gefangene, 6 genommene Geschütze, 8 Maschinengewehre
und erbeutete außerdem zahlreiche Bagagewagen - darunter allein 80 Feldküchen
-, drei Militärzüge, sonstiges zahlreiches rollendes Material, Massen
von russischen Liebesgaben und - was die Hauptsache war, einen ganzen
Tagessatz Verpflegung. Beim linken Flügel endlich wurden 2100 Gefangene
gemacht und 4 Geschütze genommen. Bis zum 12. Februar, an welchem Tage
unsere Truppen, nunmehr schon ganz auf russischem Boden, Wizwiny, Kalwarja
und Mariampol besetzten, hatte sich die Zahl der von den Truppen des Nordflügels
genommenen Geschütze auf 17 gesteigert. Die russische 73. und 56 Division
waren bis zu diesem Zeitpunkte so gut wie vernichtet, die 27. Division
aufs schwerste geschädigt.
Der vor der Angerapplinie und den Befestigungen von Lötzen gelegene Gegner
hatte inzwischen gleichfalls den Rückzug in östlicher Richtung eingeleitet.
Nunmehr schritten auch die in den deutschen Befestigungen bisher zurückgehaltenen
Truppenteile, aus Landwehr und Landsturm bestehend, zum Angriff gegen
den weichenden Feind, dessen lange Marschkolonnen von unseren Fliegern
festgestellt wurden. An diesem und an den nächsten Tagen kam es an den
verschiedensten Stellen zum Kampfe. Wiederum wurden zahlreiche Gefangene
gemacht. Seine Majestät der Kaiser hatte den Kämpfen unserer Truppen bei
Lyck beigewohnt. Bald nach der Erstürmung hielt der Oberste Kriegsherr
seinen Einzug in die masurische Hauptstadt. Es war ein soldatisches Bild
von einziger Schönheit, als die aus schwerem Kampf kommenden Truppen sich
um den unerwartet in ihrer Mitte erscheinenden Kaiser scharten und ihrem
Stolz und ihrer Freude durch begeisterte Hurrarufe und durch Singen vaterländischer
Lieder einen hinreißenden Ausdruck gaben.
II.
Aus dem Großen
Hauptquartier wird uns über die Kämpfe bei Lyck in Anwesenheit des
Kaisers das Folgende geschrieben:
Während aus der Gegend von Tilsit die Truppen des Generalobersten
v. Eichhorn bei Schnee und Eis in Gewaltmärschen auf Suwalki und Sejny
marschierten und der rechte deutsche Heeresflügel sich über Grajewo auf
Augustow Bahn brach, hatte die Mitte der Truppen des Generals v. Below
mehrtägige Kämpfe in der Gegend von Lyck durchzuführen. Begünstigt durch
die natürliche Verteidigungsstellung der masurischen Seen, hatte sich
der Feind in den künstlich verstärkten und größtenteils mit Drahthindernissen
versehenen Engen hartnäckig zur Wehr gesetzt. Hier wollte er sich um jeden
Preis behaupten, um der Masse seiner Armee die Durchführung des Rückzugs
auf Suwalki und Augustow zu ermöglichen. Der Feind, der hier seine besten
- sibirische - Truppen entfaltet hatte, die unter einer energischen Führung
mit anerkennenswerter Energie fochten, fühlte sich so stark, daß er an
einzelnen Stellen aus den Engen der masurischen Seen zum Angriff vorgegangen
war und befestigte Stellungen bezogen hatte, die mehrere Kilometer über
den Lycker See in westlicher Richtung vorgeschoben waren. Die deutschen
Truppen hatten diese Stellungen am 12. Februar genommen; der Feind war
auf die Seenengen zurückgegangen. Er hielt nunmehr einerseits das Gelände,
das sich zwischen dem Laszmiaden-See und dem Dorfe Woszczellen erstreckt,
und andererseits die Engen zwischen Woszczellen und Lycker See. Für die
deutsche Führung kam es an, den Zugang zur Stadt Lyck von Norden her zu
öffnen. Die Besitznahme des Dorfes Woszczellen mußte dabei von ausschlaggebender
Bedeutung sein. Die zu diesem Angriff ausersehene Truppe bestand aus Landwehr
und dem Füsilier-Regiment Nr. 33, während die Truppen der Generäle v.
Falck und Butlar die Engen selbst angriffen. Diese Kämpfe um Lyck spielten
sich vor den Augen des Allerhöchsten Kriegsherrn ab. Seine Majestät der
Kaiser war am 13. Februar in Lötzen eingetroffen, um zunächst jene Stellungen
zu besichtigen, die seine Truppen - vorwiegend Landsturm und Landwehr
- in ununterbrochenen drei Monate langen Kämpfen erfolgreich verteidigt
hatten. Am Nachmittag traf Seine Majestät dann auf der Höhe westlich des
Dorfes Grabnik ein, an dessen Ostausgang die deutschen Geschütze donnerten,
während die Infanterie bei lebhaftem Gewehr- und Maschinengewehrfeuer
im fortschreitenden Angriffe gegen Woszczellen lag. Mit gespannter Aufmerksamkeit
verfolgte der Allerhöchste Kriegsherr, an dessen Aufstellungsorte die
Kaiserstandarte gehißt war, die einzelnen Phasen des Kampfes bis zur einbrechenden
Dunkelheit. Leichter Regen riesele vom Himmel - die strenge Kälte der
letzten Tage hatte sich in Tauwetter verwandelt -, als der Feuerkampf
allmählich einschlief. Nur um die Enge von Woszczellen wurde noch weiter
gekämpft und diese am Abend vom Füsilier-Regiment Nr. 33 erstürmt. Kurz
vor der Abfahrt nach Lötzen, wo der Hofzug des Kaisers stand, konnte die
Meldung von diesem Erfolge, der mit der Gefangennahme von 300 Russen geendet
hatte, überbracht werden. Indessen verkündeten die Feuer-Brände am nächtlichen
Himmel, daß die Russen rückgängige Bewegungen eingeleitet hatten, bei
denen sie bekanntlich die Ortschaften, die sie hinter sich lassen, den
Flamme übergeben. Am Morgen des 14. Februar wurde der Kampf um die Seenengen
bei Lyck so lange fortgesetzt, bis diese vom Feinde geräumt wurden.
Seine Majestät hatte schon am Morgen, diesmal östlich Grabnik, Aufstellung
gekommen. Auf Russisch sprach er Gefangene an und erkundigte sich nach deren
näherer Heimat. Auf die Meldung, daß Lyck genommen sei, eilte der Kaiser
nach dieser Stadt vor, in welche gerade die siegreichen Truppen (Hanseatische
und mecklenburgische Landwehr sowie die 33er Füsiliere) von Westen her einmarschierten.
Während diese Truppen an ihrem Kaiser vorbeizogen, betraten auch von Süden
her deutsche Soldaten die befreite Stadt. Es waren die Truppen der Generäle
v. Falck und v. Butlar. Die Stadt Lyck war mit durchziehenden und sich sammelnden
Truppen aller Waffen angefüllt, deutsche Soldaten noch im Begriff, die Häuser
nach versprengten Russen abzusuchen und schwarz-weiß-rote Fahnen zum Zeichen
ihres Sieges aufzuhängen, als auf dem Marktplatze Seine Majestät eintraf,
um dessen Person sich die Truppen formierten. Als der Kaiser den Kraftwagen
verließ, wurde er mit drei donnernden Hurras begrüßt. Die Soldaten umringten
und umjubelten ihn und stimmten dann die Lieder "Heil Dir im Siegerkranz"
und "Deutschland, Deutschland über alles" an. Es war eine tiefergreifende,
welthistorische Szene. Die Größe des Augenblicks kam allen zum Bewußtsein,
die Truppe schien alle ausgehaltenen Strapazen gänzlich vergessen zu haben.
Hinter den Reihen der um ihren Kaiser gescharten Soldaten standen Hunderte
von russischen Gefangenen mit ihren phantastischen, vielgestalteten Kopfbedeckungen
und ebenso verschiedenen Gesichtszügen, die Völkerstämme ganz Asiens repräsentieren.
Der Kaiser kommandierte nun "Stillgestanden" und hielt eine kurze,
markige Ansprache an seine lautlos ihn umstehenden Soldaten. Hinter dem
Kaiser ragte als Ruine die ziegelrote im Ordensstil erbaute Kirche auf,
deren mächtiger Kirchturm völlig ausgebrannt und deren Dachstuhl zerstört
war. Die Häuserreihen rechts und links von Seiner Majestät waren bis auf
die Grundmauern niedergebrannt, verkohlte Balken ragten gen Himmel. Inmitten
dieses Bildes der Zerstörung war nur eines erhalten geblieben: das Kriegerdenkmal
für die Gefallenen des Feldzuges 1870/71, geschmückt mit dem Friedensengel
und dem Eisernen Kreuz.
Nachdem der Kaiser seine Ansprache beendet hatte, zog er noch verschiedene
mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse geschmückte Offiziere ins Gespräch.
Dann richtete er anerkennende Worte an das Füsilier-Regiment Nr. 33, ein
ostpreußisches Regiment, das sich in diesem Kriege ganz besonders ausgezeichnet
und auch schon große Verluste ertragen hat. Zwischen den Häuserreihen der
zerschossenen Stadt mit ihren ausgeplünderten Läden hindurcheilend, fuhr
dann Seine Majestät noch nach Sybba weiter, wo er Teile seines pommerschen
Grenadier-Regiments grüßte, auf welche Ansprache der Kommandeur Graf Rantzau
dankend erwiderte. Die verfolgenden Truppen gelangten an diesem Tage noch
über Lyck hinaus. Am 15. Februar war kein Russe mehr auf deutschem Boden.
Ostpreußen war vom Feinde befreit. 1)
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