Die
russische Offensive
Die
"Frankfurter Zeitung" schreibt:
Nach monatelanger Ruhe ist die Kampftätigkeit an unserer Front plötzlich
zur höchsten Steigerung neu entfacht worden. Die Russen, die seit langem
eine Offensive vorbereiteten, haben die deutschen Stellungen südlich von
Dünaburg angegriffen. Ohne Zweifel hängen diese Angriffe mit den
Operationen um Verdun zusammen, denn daß die französische Heeresleitung
ein starkes Bedürfnis nach Entlastung empfindet, ist eigentlich
selbstverständlich und läßt sich auch aus der Presse der Entente
herauslesen. Zuerst kamen die Italiener den ohne Zweifel sehr dringlich
gehaltenen Einladungen zur Hilfe nach, indem sie an ihrer Isonzofront die
lang unterbrochene Angriffstätigkeit wieder aufnahmen. Die Russen
brauchten immerhin einige Wochen, ehe sie sich zur Eröffnung der
Offensive entschlossen.
Das Gebiet, in dem sie einsetzte, ist der Ostrand der baltischen
Seenplatte, das von zahllosen großen und kleinen Seen und Sümpfen
durchsetzte Land, das Litauen vom eigentlichen Rußland trennt. Die
deutschen Stellungen sind dort erst am Ende der großen Offensive angelegt
worden, im September und Oktober vorigen Jahres, als die Front eine der kürzesten
Linie sehr nahekommende Gestalt angenommen hatte und damit für die
Verteidigungszwecke außerordentlich geeignet wurde. Die deutsche Ostfront
führt auf weiten Strecken durch Sumpfgelände, nirgends aber ist der natürliche
Schutz so groß, die Schwierigkeiten für den Angreifer so überwältigend
wie in dem Seengebiet, das zum Ausgangspunkt der neuen russischen
Offensive geworden ist. Vielleicht rechnete die russische Heeresleitung
damit, daß die Deutschen im Vertrauen auf diesen mächtigen natürlichen
Schutz die künstlichen Verteidigungsanlagen, die natürlich unentbehrlich
sind, vernachlässigt hätten. Wenn dies ihre Rechnung
wäre, so beruht sie natürlich auf ganz falschen Voraussetzungen Die
ganze Front des Oberbefehlshabers im Osten, Generalfeldmarschalls von
Hindenburg, steht in lückenloser Geschlossenheit, bereit, an jedem Punkt
den Feind abzuwehren.
Die russischen Angriffe haben nach verhältnismäßig kurzer und nach dem
Bericht unseres Kriegsberichterstatters wenig wirksamer
Artillerievorbereitung mit dem Einsatz großer Infanteriemassen begonnen,
die nach wie vor das Kennzeichen der russischen Sturmtaktik bilden. Die
Verluste des Angreifers, der nicht den geringsten Vorteil geerntet hat,
sind natürlich übergroß; zu der Zahl der Toten, die von deutscher Seite
genau festgestellt werden konnte, kommt natürlich noch eine vielleicht größere
Zahl Verwundeter, die von den Russen geborgen werden konnten. Die
Verwundeten aber bedeuten für das russische Heer in weit höherem Grad
als für das deutsche einen endgültigen Verlust, da nach amtlichen
russischen Veröffentlichungen nur etwa ein Viertel von ihnen soweit
hergestellt wird, daß sie wieder in die Front geschickt werden können.
Vor dem Opfer großer Menschenmassen scheut aber die russische Taktik, die
darin ganz dem russischen Nationalcharakter der "breiten Natur", des
Aus-dem-vollen-Wirtschaften, entspricht, keineswegs zurück. Über den
Kampfwert der in der neuen Offensive eingesetzten Truppen liegen noch
keine ausreichenden Angaben vor, man darf aber annehmen, daß General
Alexejew, der tatsächliche Oberbefehlshaber der russischen Armee, auch im
Norden jene jungen und jüngsten, notdürftig ausgebildeten Mannschaften
verwenden muß, die in den letzten Kämpfen in Ostgalizien und in der
Bukowina zu Zehntausenden hingeopfert wurden.
Die Offensive der Russen ist selbstverständlich noch nicht zu Ende.
Vielleicht greift sie sogar noch auf andere Abschnitte der gewaltigen
Ostfront über. Mit festem Vertrauen blickt Deutschland nach Osten, wo
sein tapferes Heer unter dem siegesgewohnten Feldherrn an der eisernen
Grenze Wache hält, die der Krieg aufgeworfen hat. Schon jetzt ist ein großer,
kaum abzuschätzender Gewinn erzielt: die Russen sind durch die
Entwickelung der Dinge im Westen genötigt worden, vorzeitig die Offensive
aufzunehmen, die ohne Zweifel für einen späteren Zeitpunkt bestimmt war,
in dem sie gemeinsam mit allen anderen Alliierten hätte eröffnet werden
sollen. Damit unterwirft sich die russische Heeresleitung trotz ihrer
scheinbaren Initiative dem strategischen Gesetze, das die Deutschen
vorschreiben. Aber nicht einmal der schrankenlose Opfermut der Russen wird
imstande sein, die methodische, langsam und zielbewußt sich entwickelnde
Arbeit unsrer Heere im Westen zu unterbrechen. 2) |