Die Spaltung der Sozialdemokratie
Berlin, 24. März. (Priv.-Tel.)
Bei einer Gelegenheit, bei der man überhaupt keine größere Diskussion erwartet hat und nach den Abmachungen des Seniorenkonvents auch nicht erwarten durfte, bei der Beratung des Notgesetzes, das vom 1. April ab zur Fertigstellung des Etats erforderlich ist, haben sich heute stürmische Szenen abgespielt und ist Empörung und gerechter Unwille so leidenschaftlich laut geworden wie wohl noch niemals in diesem Reichstage, auch nach dem Gedächtnis derer nicht, die auf die Tage des Kulturkampfes und des Sozialistengesetzes zurückblicken. Das Ergebnis dieser stürmischen Zusammenstöße und Auseinandersetzungen ist, daß die große Spaltung innerhalb der sozialdemokratischen Partei und Fraktion, diese Spaltung zwischen einer Mehrheit, die in der Stunde der Gefahr und des Kampfes um die Existenz des Reiches nur deutsch sein und dem Vaterland dienen will, und denen, die in unverbesserlichem Glauben an die Internationalität der Völker an der Gerechtigkeit dieses Abwehrkrieges zweifeln und dem gefährlichen Glauben nachgehen, daß unsere bisherigen Siege aus dem Schlachtfelde die Möglichkeit des Friedens bereits in unsere Hand gelegt hätten, - daß diese längst vorhandene Spaltung sich nun in eine Trennung der sozialdemokratischen Fraktion umgesetzt hat. Was die Partei und die Fraktion selbst und die Mehrheit in ihr mit unendlicher Geduld zu verhindern gesucht haben, die Trennung der Fraktion, das ist heute nach der Sitzung erfolgt. Nachdem die Mehrheit der Fraktion beschlossen hat, den Abg. Haase, ihren früheren Vorsitzenden, der auch jetzt noch Vorsitzender der Partei ist, wegen seines heutigen Verhaltens ebenso auszuschließen wie vor längerer Zeit schon den Abg. Liebknecht, hat die Minderheit, bestehend aus Haase und 18 Genossen, den Austritt aus der Fraktion erklärt. Sie bildet unter Haases Vorsitz eine eigene Fraktion. Es gibt jetzt zwei sozialdemokratische Fraktionen und damit ist eine der wichtigsten Wandlungen innerhalb der sozialdemokratischen Partei vollzogen, eine Wandlung, die sich aus der parlamentarischen Vertretung auf die Partei selbst übertragen wird.
Die Trennung der Radikalen und derer, die man bisher Revisionisten nannte, und wie man auch sagen kann, der nichtvaterländischen und der vaterländischen Sozialdemokraten, eine Entwicklung, die nach den Vorgängen während des Krieges nicht aufzuhalten war, hat damit ihren natürlichen Ausgang gefunden und das ist nicht nur für die Partei selbst, sondern für unser gesamtes Parteileben als Symptom eines Gesundungsprozesses zu begrüßen, wenn auch zunächst die Folge sein wird, daß im Reichstage die bisherig Minderheit der Sozialdemokraten. nun als eigene Partei nicht mehr von der Mehrheit gebändigt, während dieses Krieges sprechen darf, was deutsche Ohren nicht gerne hören, und was dem Ausland Freude machen wird. Ein Reich, das auf den Schlachtfeldern so steht wie wir, ein Volk, das eine vierte Kriegsanleihe mit dem unerhörten Erfolg von rund 11 Milliarden aufgebracht hat, das verträgt auch die 18 Mann um Haase, und auch der Reichstag von 397 Volksvertretern wird diese 18 um Haase vertragen und mit ihnen fertig werden umsoeher, je einiger und energischer diese überwältigende Mehrheit und je kühler und schlagfertiger ihr Präsident ist.
Ein Tag der Freude und des Stolzes war es, als nach Erledigung einiger kleiner Anfragen der Schatzsekretär Dr. Helfferich in kurzer Würdigung des Notgesetzes das Ergebnis der neuen Anleihe mitteilte, dieser Anleihe, die wieder für ein halbes Jahr die Kosten des Krieges vollkommen deckt, diese Anleihe, die aus eigener Kraft ohne fremde Hilfe zustande gekommen ist, aus einer Kraft, die unseren Feinden zeigen wird, wie wenig wir geschwächt sind, einer Kraft, die uns die Hoffnung auf den Sieg verstärkt und die Gewißheit sichert, daß uns niemand bezwingen wird. Den Dank, den Dr. Helfferich allen aussprach, die zum Erfolge dieser Anleihe beigetragen haben, den Organisatoren und den vertrauensvollen Zeichnern, diesen Dank übertrugen dann die Redner aller Parteien auf den Schatzsekretär selbst. Es klang wie ein Vertrauensvotum, das diesem Mann in diesem Augenblicke dargebracht wurde und es ist nicht nur ein Vertrauensvotum für unseren Kriegsschatzsekretär, man kann mehr sagen: ein Vertrauensvotum für unsere ganze Sache, für die Sache, wie sie zu Hause und im Felde von den Verantwortlichen geleitet und getragen wird. Es ist ein Votum gegen Mißtrauen, Kleinmut und Erregtheit, wie sie sich hie und da in letzter Zeit gezeigt haben.
In dieser kurzen Debatte über das Notgesetz hatte Scheidemann für die Sozialdemokraten gesprochen und ihre Zustimmung erklärt, ohne die Fraktion damit für die späteren Votums über den Etat zu binden. Eine Unruhe innerhalb der sozialdemokratischen Fraktion, heftiges Debattieren von Mitgliedern der Mehrheit und der Minderheit hatte sich bemerkbar gemacht und zu aller Überraschung erhielt Herr Haase, der Führer dieser Minderheit, vom Präsidenten das Wort. Nötig wäre dies nicht gewesen, denn es hat von jeder Partei nur einer gesprochen, und was Herr Haase sprach, das war zwar nicht so krankhaft und schreiend vorgetragen, aber dem Inhalte nach doch so ziemlich dasselbe, was in oft geschilderten Szenen während des Krieges Herr Liebknecht als das Bekenntnis eines auch durch die Erfahrungen dieses Kriegsausbruches und die Haltung der Feinde unverbesserlichen Internationalisten und eines weltfremden Pazifisten gesagt und zu sagen sich bemüht hat. Herr Haase ist ein kühlerer Kopf als Liebknecht, ein klarer Fanatiker, aber er kann nicht einen Augenblick im Zweifel gewesen sein, daß das, was er aussprach, dem Reiche nicht nütze, sondern schadet. Seine eigenen Parteigenossen riefen ihm erregt zu: "Ihre Politik führt zur Verlängerung des Krieges, sie dient dem feindlichen Auslande, das alles war zum Unheil Deutschlands!"
Größer noch als die Entrüstung bei allen bürgerlichen
Parteien war dann auch die der großen Mehrheit seiner eigenen Fraktion,
denn ohne den Mut gehabt zu haben, in der Fraktion etwas Derartiges anzukünden,
hat er sich bei unerwarteter Gelegenheit im Plenum das Wort verschafft,
um zu sagen, was ihm die Fraktion nicht erlaubt hätte. Es war ein
Überfall gegen seine Genossen, und so erklärt es sich, daß
ihm aus ihren Reihen in wachsender Erregung die Vorwürfe "Erbärmliche
Feigheit! Unerhört! Hinterhältiger Kerl! entgegengeschleudert
wurden, und als er gar nach Helfferichs Abwehr und nachdem Scheidemann
unter dem stürmischen Jubel aller anderen Parteien und unter Händeklatschen
erklärt hatte: "In der Stunde der Not lassen wir unser Vaterland
nicht im Stich", noch einmal das Wort ergriff, da stürmten seine
Parteigenossen mit erregten Zurufen auf ihn ein und umdrängten ihn,
sodaß im minutenlangen Lärm der Gang der Sitzung unterbrochen
war und man glauben konnte, es würde zu Tätlichkeiten kommen.
In diesem Lärm schloß der Präsident die Sitzung und beraumte auf eine Stunde später eine neue an, und die verlief dann ganz ruhig. Das Notgesetz wurde angenommen und der Präsident ermächtigt, die nächste Sitzung etwa für den 4. oder 5. April einzuberufen. Man erwartet, daß in dieser Sitzung der Reichskanzler über die gesamte Lage sprechen wird. Herr Haase hat nicht alles sagen können. was er wollte. Die Entrüstung der anderen Parteien hat ihn unterbrochen und schließlich hat ihm der Reichstag das Wort entzogen. Er wollte offenbar die Ursachen des Krieges nach seiner Auffassung entwickeln, aber, was er sagte und was erörtert worden ist, das entfachte die Entrüstung, die sich gegen ihn erhob. Wenn er für seine Person glaubt, daß wir nicht siegen werden, daß es nicht Besiegte und Sieger geben werde, und daß die gemeinsame Solidarität der Völker diesen Krieg beendigen könne, daß es an der deutschen Regierung liege, wenn er nicht schon beendet sei, so mußte er doch mit Rücksicht auf sein Vaterland das jetzt unausgesprochen lassen, denn es stärkt den Mut und die Herzen unserer Feinde, wie ihm später Helfferich in einer trefflichen Rede vorhielt.
Berlin, 24. März. (Priv.-Tel.)
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hat unmittelbar nach Schluß der Plenarsitzung in mehrstündigen Verhandlungen die Vorgänge der heutigen Sitzung besprochen. Das Ergebnis ist, daß der Abgeordnete Haase in genau derselben Form, wie es seinerzeit bei Liebknecht geschah, aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden ist. Die Gruppe um Haase, die sich aus 18 sozialdemokratischen Abgeordneten zusammensetzt, ist im Anschluß daran zusammengetreten, um unter dem Vorsitz Haases eine neue Reichstagsfraktion zu bilden. In dem Beschlusse, durch welchen die Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion heute dem Abgeordneten Haase die Rechte eines Fraktionsmitgliedes aberkannt hat, heißt es u. a., daß das heutige Auftreten, das ohne Wissen und wider den Willen der Fraktion erfolgt ist, illoyal sei und einen Disziplinbruch und Treubruch darstelle. Die Abgeordneten, die sich mit Haase solidarisch erklärt haben und die neue Fraktion unter dem Namen "Fraktion der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft" bilden werden, sind außer Haase selbst:
Vogther, Zubeil, Ledebour, Stolle, Geyer, Schwarz (Lübeck), Henke, Herzfeld, Cohn (Nordhausen), Buchner, Stadthagen, Dittmann, Bock (Gotha), Antrick, Kunert und Wurm, zu denen sich wahrscheinlich noch Liebknecht und Rühle gesellen werden. (Eine Meldung des Wolffschen Bureaus enthält noch die Namen Bernstein und Horn (Sachsen), während darin Antrick fehlt. Als Vorsitzende der Fraktion werden Haase und Ledebour genannt.) Diese Mitglieder der voraussichtlichen neuen Fraktion sind von der sozialdemokratischen Fraktion dem Bureau des Reichstages als nicht mehr befügt zur Vertretung der sozialdemokratischen Fraktion oder Kommissionen bezeichnet worden und werden zu den Fraktionssitzungen nicht mehr eingeladen.
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