Der Weltkrieg am 28. Juni 1916

DEUTSCHER HEERESBERICHT - ÖSTERREICHISCHER HEERESBERICHT - BULGARISCHER HEERESBERICHT

 

Der deutsche Heeresbericht:

Dorf Liniewka bei Sokul erstürmt

Erfolgreiche Erkundigungsvorstöße an der englischen Front

Großes Hauptquartier, 28. Juni.
Westlicher Kriegsschauplatz:
Vom Kanal von La Bassée bis südlich der Somme machte der Gegner unter vielfachem starkem Artillerieeinsatz sowie im Anschluß an Sprengungen und unter dem Schutze von Rauch- und Gaswolken Erkundungsvorstöße, die mühelos abgewiesen wurden. 
Auch in der Champagne scheiterten Unternehmungen schwächerer feindlicher Abteilungen nordöstlich von Le Mesnil. 
Links der Maas wurden am "Toten Mann" nachts Handgranatenabteilungen des Gegners abgewehrt. Rechts des Flusses haben die Franzosen nach etwa zwölfstündiger heftiger Feuervorbereitung gestern den ganzen Tag über mit starken, zum Teil neu herangeführten Kräften die von uns am 23. Juni eroberten Stellungen auf dem Höhenrücken "Kalte Erde", das Dorf Fleury und die östlich anschließenden Linien angegriffen. Unter ganz außerordentlichen Verlusten durch das Sperrfeuer unserer Artillerie und im Kampfe mit unserer tapferen Infanterie sind alle Angriffe restlos zusammengebrochen. Ein feindlicher Flieger wurde bei Douaumont abgeschossen. 
Am 25. Juni hat Leutnant Höhndorf bei Raucourt (nördlich von Nomeny) sein siebentes feindliches Flugzeug, einen französischen Doppeldecker, außer Gefecht gesetzt.
Wie sich bei weiterer Untersuchung herausgestellt hat, trifft die Angabe im
Tagesbericht vom 23. Juni, unter den gefangenen Angreifern auf Karlsruhe hätten sich Engländer befunden, nicht zu. Die Gefangenen sind sämtlich Franzosen.
Östlicher Kriegsschauplatz: 
Bei der Heeresgruppe des Generals von Linsingen wurden das Dorf Liniewka (westlich
von Sokul) und die südlich des Dorfes liegenden russischen Stellungen mit stürmender Hand genommen. Sonst keine wesentlichen Veränderungen.
Balkankriegsschauplatz: 
Außer Artilleriekämpfen zwischen dem Vardar und dem Doiran-See ist nichts zu berichten.

Oberste Heeresleitung. 1)

 

Luftkämpfe über dem Rigaischen Meerbusen

Berlin, 28. Juni.
Am 26. Juni zwang eines unserer Marineflugzeuge am westlichen Eingang zum Rigaischen Meerbusen im Kampfe mit fünf russischen Flugzeugen eines derselben zur Landung. Im Verlaufe eines weiteren Luftkampfes, der sich zwischen fünf deutschen und ebensoviel russischen Flugzeugen in derselben Gegend abspielte, mußten zwei feindliche Flugzeuge schwer beschädigt landen. Eines unserer Flugzeuge ging infolge Treffers in den Propeller auf das Wasser nieder und wurde versenkt. Die Besatzung wurde von anderen deutschen Flugzeugen aufgenommen und nach ihrem heimatlichen Stützpunkt gebracht. 
Obwohl die Flugzeuge heftig von Zerstörern beschossen wurden, sind sämtliche Flieger und Beobachter unversehrt zurückgekehrt.
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Der österreichisch-ungarische Heeresbericht:

Wien, 28. Juni.
Amtlich wird verlautbart: 
Russischer Kriegsschauplatz: 
Bei Kuty wiederholte der Feind seine Angriffe mit dem gleichen Mißerfolg wie an den Vortagen. Sonst in der Bukowina und in Ostgalizien nichts Neues. 
Südwestlich von Nowo-Poczajew schlugen unsere Vorposten fünf Nachtangriffe der Russen ab. Westlich von Torczyn brach ein starker russischer Angriff in unserem Artillerie- und Infanteriefeuer zusammen. Westlich von Sokul erstürmten deutsche Truppen das Gehöft Liniewka und mehrere andere Stellungen.
Italienischer Kriegsschauplatz: 
Gestern griffen die Italiener zwischen Etsch und Brenta an mehreren Stellen an, so im Val di Foxi am Pasubio, gegen den Monte Rasta und im Vorterrain des Monte Zebio; alle diese Angriffe wurden blutig abgewiesen. Bei den von stärkeren feindlichen Kräften geführten Vorstößen gegen den Monte Rasta fielen 530 Gefangene, darunter 15 Offiziere in unsere Hände. 
An der Kärntnerfront wiederholte der Feind seine fruchtlosen Anstrengungen im Plöckenabschnitt. Seine Angriffe richteten sich hauptsächlich gegen den Freikofel und
gegen den Großen Pal. Stellenweise kam es zum Handgemenge Die braven Verteidiger blieben im festen Besitz aller ihrer Stellungen. An der küstenländischen Front war der Artilleriekampf zeitweise recht lebhaft. Unsere Flieger belegten die Bahnhöfe und militärischen Anlagen von Treviso. Monte Belluna, Vicenza und Padua sowie die Adriawerke von Monfalcone mit Bomben.
Südöstlicher Kriegsschauplatz: 
Nichts Neues.

Der Stellvertreter des Chefs des Generalstabes
v. Hoefer, Feldmarschalleutnant.
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Der bulgarische Heeresbericht:

Sofia, 28. Juni. (W. B.) 
Der Generalstab meldet vom 27. Juni: 
Die Lage an der mazedonischen Front ist unverändert. Das schwache Geschützfeuer im Tale des Wardar und auf dem Südabhang der Belassitza geht täglich weiter auf beiden Seiten. Am 24. Juni zwangen wir durch unser Feuer die Franzosen, ihre Stellung nördlich der Ortschaft Gorni Poroy zu räumen. Gestern zerstörte das Feuer unserer Artillerie auf dem rechten Ufer des Wardar zwei feindliche Geschütze, außerdem rief es eine Explosion in Munitionsdepots hervor. An der ganzen Front finden für uns günstig verlaufende Gefechte zwischen Patrouillen und Vorposten statt. Fast täglich werfen feindliche Flieger weiterhin Brandbomben auf die Felder und das Gebiet der Dörfer Karaghiozlu, Karakoej, Orazla, Zainnely und Ghendyely, die am unteren Ufer der Nesta liegen. Sie wurden besonders am 25. Juni heimgesucht. Am 26. Juni bombardierte ein feindliches Flugzeug wirkungslos das Dorf Merzentzi.
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Differenzen im englischen Kabinett

London, 28. Juni. (Priv.-Tel.) 
Lord Selborne ist vom Landschaftsministerium zurückgetreten. Im Oberhause legte er die Gründe seines Rücktritts dar; er sagte, er sei durchaus bereit, eine Regelung in der Angelegenheit des Ausschlusses von Ulster anzunehmen und alle möglichen Garantien zu geben, daß das derart geänderte Homerulegesetz sofort nach dem Kriege in Wirkung treten soll, aber er glaube nicht, daß das Gesetz während des Krieges in vernünftiger und sicherer Weise in Wirkung gebracht werden könne. Man glaubt, daß noch andere Minister zurücktreten, weil sie nicht damit einverstanden seien, daß Homerule noch während des Krieges eingeführt werde.
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Eine falsche englische Behauptung

Berlin, 28. Juni. (W. B. Amtlich.) 
Die immer wiederkehrende englische Behauptung, auch von offizieller Seite, daß eine größere Anzahl von deutschen U-Booten während der Seeschlacht vor dem Skagerrak vernichtet worden sei, ist völlig aus der Luft gegriffen. Es hat kein einziges deutsches U-Boot an der Seeschlacht teilgenommen und es konnte daher während der Seeschlacht auch keines verloren gehen. Auch sind sämtliche zur Zeit der Seeschlacht in See gewesenen U-Boote wohlbehalten zurückgekehrt.
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Der deutsche Besuch in Bulgarien

Bassermann
Bassermann
Dr. Stresemann
Dr. Stresemann

Sofia 28. Juni. (Priv.-Tel.) 
Bei dem von der Sobranje zu Ehren der deutschen Abgeordneten veranstalten Bankett im Offizierskasino sprach Bassermann in einer eindrucksvollen Rede. Die Volksbegeisterung erreichte die größte Ausdehnung bei dem Fackelzug vor dem Kasino. Unzählige Male erklärten die bulgarischen Festteilnehmer, daß das bulgarische Volk Vertretern fremder Staaten nie vorher derartig begeisterte Kundgebungen dargebracht habe. Die bulgarische Schuljugend sang die deutsche Nationalhymne und andere deutsche Lieder. Im Namen der mazedonischen Brüderschaften hielt Dr. Tschewen Iwanow in deutscher Sprache eine Willkommrede, begleitet von dem Hurra der tausendköpfigen Menge, das sich weiter ausdehnte, als Abg. Dietrich mit weithinschallender Stimme ein Hoch in bulgarischer Sprache auf den Zaren, das Volk und die Armee ausbrachte. Dienstag früh fand ein Automobilausflug nach dem idyllisch gelegenen 18 Kilometer entfernten Bad Banko statt, wo die bulgarische Presse ein Frühstück gab. Naumanns Begrüßungsrede, in der er die bulgarische Intelligenz, Sprache, Dichtung und Kunst feierte, machte tiefen Eindruck bei allen Vertretern der bulgarischen Geisteswelt und Künstlerschaft.

Sofia, 28. Juni. (Priv.-Tel.) 
Im Stadtkasino fand heute zum Abschied der deutschen Gäste unter Leitung des Bürgermeisters Radew ein Festbankett statt, bei dem Reichstagsabgeordneter Dr. Stresemann den Bulgaren für die Gastfreundschaft dankte. Der Männerchor der bulgarischen Junkerschule sang "Heil Dir im Siegerkranz". Später wurden im illuminierten Park des Kasinos deutsche und bulgarische Lieder gesungen, die ein junger bulgarischer Krieger dirigierte.

Sofia, 28. Juni. (W. B.) 
Bei der gestrigen Abendvorstellung im Nationaltheater empfing der König die deutschen Abgeordneten und unterhielt sich mit jedem von ihnen Die deutschen Gäste traten heute vormittag die Reise in die Provinz an, sie werden die wichtigsten Provinzialstädte besuchen.
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Die deutsch-türkische Freundschaft

Konstantinopel, 28. Juni. (Priv.-Tel.) 
Die aus Deutschland heimgekehrten türkischen Abgeordneten versammelten gestern ihre zahlreichen hier anwesenden Kollegen im Parlament, um ihnen ihre Reise-Eindrücke zu übermitteln. Ihr Sprecher, der Abgeordnete Selah Djimdoz, stellte fest, daß in Deutschland die aufrichtigste und tiefste Freundschaft für die Türkei herrsche Mit großer Bewunderung wurde der Organisation Deutschlands auf allen Gebieten gedacht und die Überzeugung ausgedrückt, daß Deutschland stark genug sei, diesen Krieg noch lange und siegreich weiterzuführen. Die Abgeordneten drückten den Wunsch aus, daß zukünftig die zwischen beiden Ländern bestehenden Beziehungen noch enger geknüpft werden. 
Morgen gibt Graf Metternich zu Ehren der zurückgekehrten Abgeordneten ein Essen.
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Nationalitätenkonferenz in Bern

Bern, 28. Juni. (W. B.) 
Meldung der Schweizerischen Depeschen-Agentur. 
Dienstag vormittag wurde die dritte Nationalitätenkonferenz unter dem Vorsitz des Präsidenten Otlet (Belgien) eröffnet. Der Vorsitzende legte die Grundlagen der Konferenz dar, die in der Hauptsache das Selbstbestimmungsrecht der Völker umfassen. Burnier, Vizepräsident des Gemeinderats von Lausanne, begrüßte die Versammlung und erinnerte daran, nicht zu vergessen, daß man sich in der Schweiz befinde und es daher angezeigt sei, jede Kundgebung zu vermeiden, die diesem Lande Schwierigkeiten verursachen könne. Ferner sprachen Gabrys (Litauen), Heron (Nordamerika) und Claparède (Genf). Die Nachmittagssitzung war ausschließlich der Besprechung der Erklärung der Rechte der Nationalitäten gewidmet, deren Entwurf von Otlet ausgearbeitet und von der internationalen Kommission redigiert ist. Sie wurde mit leichten Änderungen nach gründlicher und ruhiger Erörterung ohne jede Kundgebung angenommen.
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Der Prozeß gegen Karl Liebknecht

Karl Liebknecht
Karl Liebknecht

Berlin, 28. Juni. (W. B.) 
Vor dem Kriegsgericht wurde heute der Prozeß Liebknecht verhandelt. Die Anklage geht auf versuchten Landesverrat, begangen im Felde, d. h. während des Kriegszustandes, und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Für die Verhandlung wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Nach Wiedereröffnung der Sitzung wurde das Urteil verkündet: 2 Jahre, 6 Monate, 3 Tage Zuchthaus und Entfernung aus dem Heere wegen versuchten Kriegsverrats, erschwerten Ungehorsams und Widerstands gegen die Staatsgewalt. Bei der Strafzumessung war das Gericht von der Ansicht ausgegangen, daß Liebknecht nicht aus ehrloser Gesinnung gehandelt habe, sondern daß politischer Fanatismus die Triebfeder bei seinen Verfehlungen gewesen sei. Aus diesem Grunde hat es auf die mindestzulässige Strafe erkannt und auch von der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte abgesehen. Gegen dieses Urteil steht Liebknecht das Rechtsmittel der Berufung zu.
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Sasonow über die Ursachen des Krieges

Russland 1. Weltkrieg: Sasonow
Sasonow

Petersburg, 28. Juni (Meldung der Petersburger Telegraphen-Agentur.) 
Der politische Redakteur der Moskauer Zeitung "Rußkoje Slowo" hatte mit Sasonow eine Unterredung über die Frage: Inwieweit sind die Versuche des deutschen Reichskanzlers begründet, auf andere Personen die Verantwortlichkeit für den jetzigen Krieg abzuwälzen? Sasonow sagte:
Die Erklärungen Bethmann Hollwegs werden in ihren leitenden Gedanken verständlich, wenn man bedenkt, daß er seinen Ruf als Staatsmann nicht vor irgend einem unparteiischen Zuhörerkreis, sondern gegen die Vorwürfe und Anschuldigungen seiner eigenen Landsleute zu verteidigen hatte. Uns geht es übrigens wenig an, wie weit seine Landsleute mit der Anklage recht haben, aber es ist in jedem Falle zu beachten, daß zahlreiche Deutsche sich allmählich klar werden über die wahre Natur einiger besonderer Züge der deutschen Politik, die letzten Endes zum Weltbrand führte. 
Die öffentliche Meinung Rußlands hatte den natürlichen Wunsch, einen Vergleich zu ziehen zwischen den neuen Erklärungen des Reichskanzlers und den früher amtlich veröffentlichen Darstellungen. Dieser Vergleich war um so nützlicher, als unsere so vollständigen ins einzelne gehenden und in den diplomatischen Aktenstücken gut gestützten Angaben in den bezüglichen deutschen Veröffentlichungen farblos erscheinen. Da diese Mangelhaftigkeit der deutschen Aktenstücke den lebhaften Wunsch der deutschen Regierung bezeugte, über ihre Haltung gegenüber der schrecklichen Tragödie, die damals Europa erlebte, einen Schleier zu breiten, schien es klar, daß die neuen Darlegungen des Kanzlers zu seiner eigenen Verteidigung von hohem Interesse für die ganze Welt sein mußten. Indem er sich jedoch vor den Augen seiner Landsleute zu rechtfertigen suchte ging Bethmann Hollweg in seinem Übereifer über alles hinaus, was er bisher gesagt hatte. Der Reichskanzler erklärte u. a , England, Frankreich und Rußland hätten sich durch ein Bündnis gegen Deutschland eng zusammengeschlossen. Er mußte seiner Zuhörerschaft gar zu sicher sein, um eine solche Behauptung aufzustellen. Nur die Deutschen mit ihrer soldatischen Erziehung und dem blinden Gehorsam gegenüber ihren Führern konnten diese sinnlose Behauptung glauben. In der Tat weiß der Reichskanzler ebenso gut wie ich und wie jeder einigermaßen unterrichtete Europäer, daß vor dem Kriege kein Vertrag Rußland und Frankreich mit England verband. Was mich aber betrifft, so war ich dessen immer sicher, daß, wenn Deutschland einen Krieg anfinge, um seine Vorherrschaft in Europa zu bekräftigen, es unvermeidlich England gegen sich haben würde. Der Kanzler behauptet, Frankreich und Rußland würden niemals gewagt haben, der deutschen Herausforderung entgegenzutreten, wenn sie nicht der Hilfe Großbritanniens sicher gewesen wären. Indessen war die tatsächliche politische Lage, obgleich sie der Kanzler nicht anerkennen will, derart, daß Frankreich und Rußland trotz ihrer von Grund aus friedlichen Gesinnung und ihres aufrichtigen Wunsches, ein Blutvergießen zu vermeiden, sich entschlossen, die Anmaßung Deutschlands niederzuschlagen.
Die grobe Politik Deutschlands hatte zur Folge, daß die Tripel-Entente, die lange keine genaue materielle Gestalt besessen hatte, ein mächtiges politisches Bündnis wurde mit dem Ziele, die Rechte und Interessen seiner Glieder und die Aufrechterhaltung des europäischen Friedens zu schützen. Der Reichskanzler begnügte sich nicht damit, Rußlands guten Glauben zu verdächtigen, er klagt es an, sein Gewissen mit dem Verbrechen eines blutigen europäischen Krieges durch eine überstürzte Mobilmachung belastet zu haben. Indessen vermeidet der Kanzler sorgsam zu erwähnen, daß die russische Mobilmachung nach derjenigen der österreichisch-ungarischen Armee und eines beträchtlichen Teiles der deutschen Armee vor sich ging. Jeder kennt übrigens die vorzeitige Bekanntgabe dieser Mobilmachung an das deutsche Volk durch den "Lokal-Anzeiger", eine nicht zu leugnende und wirkliche Tatsache. Trotz seiner Art der Verteidigung bin ich bereit zuzugeben, daß der Reichskanzler, da er bei jeder günstigen Gelegenheit erklärt, den Krieg nicht gewollt zu haben, nicht sein direkter Anstifter gewesen ist. Je mehr man es zugibt, um so mehr wird es klar, daß zahlreiche Persönlichkeiten aus der Umgebung des Kanzlers diesen Krieg glühend wünschten. Es besteht die feste Sicherheit, die jetzt ganz Europa hat, daß das Ultimatum an Serbien unter dem unmittelbaren Einfluß eines hervorragenden deutschen Diplomaten ausgearbeitet und mit Übergehung des Leiters der deutschen Politik dem Kaiser Wilhelm zur Billigung unterbreitet wurde. Dies ist die Sicherheit dafür, daß Bethmann Hollweg nicht Herr in seinem eigenen Hause war. Aber andererseits ist es schwierig zuzugeben, daß der Kanzler nicht auf dem laufenden über die Intrigen der Feinde des europäischen Friedens war, und daß er nichts davon wußte. Der Kanzler spricht häufig mit einer wenig aufrichtigen Befriedigung von den Erfolgen Deutschlands, aber er vermeidet es klugerweise, die Pläne zu erwähnen, die Deutschland aufgestellt hatte, die aber unerfüllbare Träume bleiben, und deren Liste weit länger ist als diejenige der zur Erfüllung gebrachten Entwürfe. Bethmann Hollweg kann seine Zuflucht zu allen möglichen Kunstgriffen nehmen, aber er wird nicht beweisen können, daß der Krieg von Rußland oder England hervorgerufen worden ist. Der jetzige ist ausschließlich durch die pangermanistische Krebskrankheit verschuldet, die Deutschland seit zwanzig Jahren zerfrißt und die jetzt seine Lebensorgane erreicht hat. Mir scheint es oft, daß der Reichskanzler ebenso wie der Staatssekretär von Jagow sich der Gefahr dieses schrecklichen Unheils bewußt waren, daß sie aber nicht den Mut hatten, sie zu bekämpfen. Bevor jeder Nachbar Deutschlands sicher ist, daß der Pangermanismus, dessen hauptsächlichste Waffe der preußische Militarismus ist, aufgehört hat, eine Gefahr für die Welt zu bilden, ist jeder Friede zwischen den Verbündeten und Deutschland unmöglich.
Ferner erklärte Sasonow: 
Der Druck den die grobe deutsche Faust auf die Türkei ausübt, ebenso wie der Umstand, daß der Sultan seine Würde als Herr der ganzen muselmanischen Welt verloren hat, wird das osmanische Reich auf den Stand eines Staates zweiten Ranges herabdrücken. Über die Erklärung Asquiths bezüglich der Zukunft der Meerengen erklärte der russische Minister, die bei Beginn des Krieges von den drei Mächten gefaßten, Rußland besonders angehenden Entschließungen sicherten Rußland vollständig die Erfüllung seiner Jahrhunderte alten nationalen Wünsche.
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Nach zwei Jahren

Wien, 28. Juni.
Vor zwei Jahren ist der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand mit seiner Gemahlin, der Herzogin von Hohenberg, von den serbischen Verschwörern ermordet und damit das Signal zum Weltkriege gegeben worden. Der Zusammenhang zwischen Attentat und Krieg liegt nun schon ganz anders zu Tage als am 28. Juni 1914, wo es einem leitenden Staatsmann noch fast als Prophetie angerechnet wurde, daß er bei der ersten Kunde von dem Verbrechen die Worte sprach: "Das ist der Weltkrieg."
Es ist viel Papier darüber verschrieben worden, ob es bei geschickterer Diplomatie möglich gewesen wäre, den Krieg zu vermeiden. Man wird, je nach der persönlichen Stellung, diese Frage bejahend oder verneinend beantworten können. So viel aber steht fest: Alles, was über die Vorgeschichte des Attentats ans Tageslicht gekommen ist, hat nur den Beweis geliefert, daß durch die unerwartete Energie Österreich-Ungarns, dessen energischster Mann ja eben um seiner Energie willen aus dem Wege geräumt worden war, ein Netz zerrissen wurde, das wohl politisch aber noch nicht militärisch lückenlos fertig war und unter allen Umständen früher oder später den Mittelmächten über den Kopf geworfen werden sollte. Die Vernichtung Österreich-Ungarns, die Mattsetzung des Deutschen Reiches waren beschlossene Sache und mit den raffiniertesten Mitteln bereits vorbereitet. Eine politische und militärische Konsolidierung Österreich-Ungarns unter dem Einfluß des Thronfolgers mußte verhütet werden, weil die Wehrlosigkeit der habsburgischen Monarchie einen Hauptfaktor in der Rechnung Rußlands und damit des Dreiverbandes bildete und weil neben der Zurückdrängung des deutschen Handels, an der hauptsächlich England interessiert war, das österreichisch-ungarische Gebiet als die eigentliche Beute das "Kriegsziel" der östlichen Ententegenossen war. Die vermeintliche Schwäche oder mindestens die Unterschätzung der Kraft Habsburgs war also nicht nur ein mangelndes Kriegshindernis, sondern ein direkter Anreiz zum Kriege, und hätte Österreich-Ungarn sich in letzter Stunde nicht aufgerafft, Garantien für seine Sicherheit zu fordern, so wäre ihm nach dem vollständigen Ausbau des strategischen Netzes in Rußland doch der Krieg erklärt und wahrscheinlich der Todesstoß verhetzt worden.
Diese Erkenntnis, heute schon Gemeingut aller am Bestande des Reichs interessierten Völker der Monarchie, ist es denn auch, die alle Kriegsleiden mit stoischer Geduld ertragen läßt. Jeder Österreicher und Ungar weiß, daß man mit dem Kriege nur längst gezückten Dolchen begegnet ist. Es kann darum auch von einer anderen Kriegsmüdigkeit als der natürlichen Sehnsucht nach einem Ende des Blutvergießens nicht die Rede sein. Niemand wünscht einen Frieden auf Kosten der Sicherheit und Zukunft der Monarchie, und es wird jedes Opfer ohne Klage getragen, dessen Unvermeidlichkeit um des Endziels willen erwiesen ist. Sollte man also irgendwo auf einen moralischen Zusammenbruch des vielgestaltigen Reiches vor seiner -  in weiter Ferne liegenden - physischen Erschöpfung rechnen, so würde man durch die Tatsachen aller Voraussicht nach schwer enttäuscht werden. Nach außen ist das Reich einig wie nie zuvor, und zwei Jahre schwerste Leiden haben diese Einigkeit nicht nur nicht erschüttert, sondern zum Postulat aller redlich Denkenden in beiden Staaten der Monarchie gemacht. Wenn trotzdem die Zeit des Krieges nicht etwa als der Beginn der Wiedergeburt Österreich-Ungarns rot angemerkt wird, so ist es, weil diese Wiedergeburt noch nicht auf allen Gebieten in die Erscheinung tritt. Rückständigkeiten und Unzulänglichkeiten werden ja nicht durch eine einzige Erschütterung aus der Welt geschafft, sie treten in Zeiten schwerer Prüfung erst recht zu Tage. Berechtigte Kritik, die nicht in einer Feindschaft gegen den Staat, sondern in dem Willen zu ihm begründet ist, läßt sich auch durch noch so rücksichtslose Zensur nicht unterdrücken, und wenn opferschwere Rückschläge auf Mängel des Systems zurückzuführen sind, so halten gerade die Patrioten mit ihrer Meinung am wenigsten hinter dem Berge. Eine öffentliche Aussprache ist freilich derzeit nicht nur aus Gründen der Zensur unmöglich, aber sie wird gewiß nicht ausbleiben.
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Der 1. Weltkrieg im Juni 1916

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TEXTQUELLEN:
1) Amtliche Kriegs-Depeschen
Nach Berichten des Wolff´schen Telegr.-Bureaus
4. Band
Nationaler Verlag, Berlin SW 68
(1916)

2) "Frankfurter Zeitung" (1916)

 

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