Sasonow
über die Ursachen des Krieges
Sasonow
Petersburg,
28. Juni (Meldung der Petersburger Telegraphen-Agentur.)
Der politische Redakteur der Moskauer Zeitung "Rußkoje
Slowo" hatte mit Sasonow eine Unterredung über die Frage:
Inwieweit sind die Versuche des deutschen Reichskanzlers begründet,
auf andere Personen die Verantwortlichkeit für den jetzigen Krieg
abzuwälzen? Sasonow sagte:
Die Erklärungen Bethmann Hollwegs werden in ihren leitenden
Gedanken verständlich, wenn man bedenkt, daß er seinen Ruf als
Staatsmann nicht vor irgend einem unparteiischen Zuhörerkreis,
sondern gegen die Vorwürfe und Anschuldigungen seiner eigenen
Landsleute zu verteidigen hatte. Uns geht es übrigens wenig an, wie
weit seine Landsleute mit der Anklage recht haben, aber es ist in
jedem Falle zu beachten, daß zahlreiche Deutsche sich allmählich
klar werden über die wahre Natur einiger besonderer Züge der
deutschen Politik, die letzten Endes zum Weltbrand führte.
Die öffentliche Meinung Rußlands hatte den natürlichen Wunsch,
einen Vergleich zu ziehen zwischen den neuen Erklärungen des
Reichskanzlers und den früher amtlich veröffentlichen
Darstellungen. Dieser Vergleich war um so nützlicher, als unsere so
vollständigen ins einzelne gehenden und in den diplomatischen
Aktenstücken gut gestützten Angaben in den bezüglichen deutschen
Veröffentlichungen farblos erscheinen. Da diese Mangelhaftigkeit
der deutschen Aktenstücke den lebhaften Wunsch der deutschen
Regierung bezeugte, über ihre Haltung gegenüber der schrecklichen
Tragödie, die damals Europa erlebte, einen Schleier zu breiten,
schien es klar, daß die neuen Darlegungen des Kanzlers zu seiner
eigenen Verteidigung von hohem Interesse für die ganze Welt sein mußten.
Indem er sich jedoch vor den Augen seiner Landsleute zu
rechtfertigen suchte ging Bethmann Hollweg in seinem Übereifer über
alles hinaus, was er bisher gesagt hatte. Der Reichskanzler erklärte
u. a , England, Frankreich und Rußland hätten sich durch ein Bündnis
gegen Deutschland eng zusammengeschlossen. Er mußte seiner Zuhörerschaft
gar zu sicher sein, um eine solche Behauptung aufzustellen. Nur die
Deutschen mit ihrer soldatischen Erziehung und dem blinden Gehorsam
gegenüber ihren Führern konnten diese sinnlose Behauptung glauben.
In der Tat weiß der Reichskanzler ebenso gut wie ich und wie jeder
einigermaßen unterrichtete Europäer, daß vor dem Kriege kein
Vertrag Rußland und Frankreich mit England verband. Was mich aber
betrifft, so war ich dessen immer sicher, daß, wenn Deutschland
einen Krieg anfinge, um seine Vorherrschaft in Europa zu bekräftigen,
es unvermeidlich England gegen sich haben würde. Der Kanzler
behauptet, Frankreich und Rußland würden niemals gewagt haben, der
deutschen Herausforderung entgegenzutreten, wenn sie nicht der Hilfe
Großbritanniens sicher gewesen wären. Indessen war die tatsächliche
politische Lage, obgleich sie der Kanzler nicht anerkennen will,
derart, daß Frankreich und Rußland trotz ihrer von Grund aus
friedlichen Gesinnung und ihres aufrichtigen Wunsches, ein
Blutvergießen zu vermeiden, sich entschlossen, die Anmaßung
Deutschlands niederzuschlagen.
Die grobe Politik Deutschlands hatte zur Folge, daß die
Tripel-Entente, die lange keine genaue materielle Gestalt besessen
hatte, ein mächtiges politisches Bündnis wurde mit dem Ziele, die
Rechte und Interessen seiner Glieder und die Aufrechterhaltung des
europäischen Friedens zu schützen. Der Reichskanzler begnügte
sich nicht damit, Rußlands guten Glauben zu verdächtigen, er klagt
es an, sein Gewissen mit dem Verbrechen eines blutigen europäischen
Krieges durch eine überstürzte Mobilmachung belastet zu haben.
Indessen vermeidet der Kanzler sorgsam zu erwähnen, daß die
russische Mobilmachung nach derjenigen der österreichisch-ungarischen
Armee und eines beträchtlichen Teiles der deutschen Armee vor sich
ging. Jeder kennt übrigens die vorzeitige Bekanntgabe dieser
Mobilmachung an das deutsche Volk durch den
"Lokal-Anzeiger", eine nicht zu leugnende und wirkliche
Tatsache. Trotz seiner Art der Verteidigung bin ich bereit
zuzugeben, daß der Reichskanzler, da er bei jeder günstigen
Gelegenheit erklärt, den Krieg nicht gewollt zu haben, nicht sein
direkter Anstifter gewesen ist. Je mehr man es zugibt, um so mehr
wird es klar, daß zahlreiche Persönlichkeiten aus der Umgebung des
Kanzlers diesen Krieg glühend wünschten. Es besteht die feste
Sicherheit, die jetzt ganz Europa hat, daß das Ultimatum an Serbien
unter dem unmittelbaren Einfluß eines hervorragenden deutschen
Diplomaten ausgearbeitet und mit Übergehung des Leiters der
deutschen Politik dem Kaiser Wilhelm zur Billigung unterbreitet
wurde. Dies ist die Sicherheit dafür, daß Bethmann Hollweg nicht
Herr in seinem eigenen Hause war. Aber andererseits ist es schwierig
zuzugeben, daß der Kanzler nicht auf dem laufenden über die
Intrigen der Feinde des europäischen Friedens war, und daß er
nichts davon wußte. Der Kanzler spricht häufig mit einer wenig
aufrichtigen Befriedigung von den Erfolgen Deutschlands, aber er
vermeidet es klugerweise, die Pläne zu erwähnen, die Deutschland
aufgestellt hatte, die aber unerfüllbare Träume bleiben, und deren
Liste weit länger ist als diejenige der zur Erfüllung gebrachten
Entwürfe. Bethmann Hollweg kann seine Zuflucht zu allen möglichen
Kunstgriffen nehmen, aber er wird nicht beweisen können, daß der
Krieg von Rußland oder England hervorgerufen worden ist. Der
jetzige ist ausschließlich durch die pangermanistische
Krebskrankheit verschuldet, die Deutschland seit zwanzig Jahren
zerfrißt und die jetzt seine Lebensorgane erreicht hat. Mir scheint
es oft, daß der Reichskanzler ebenso wie der Staatssekretär von
Jagow sich der Gefahr dieses schrecklichen Unheils bewußt waren, daß
sie aber nicht den Mut hatten, sie zu bekämpfen. Bevor jeder
Nachbar Deutschlands sicher ist, daß der Pangermanismus, dessen
hauptsächlichste Waffe der preußische Militarismus ist, aufgehört
hat, eine Gefahr für die Welt zu bilden, ist jeder Friede zwischen
den Verbündeten und Deutschland unmöglich.
Ferner erklärte Sasonow:
Der Druck den die grobe deutsche Faust auf die Türkei ausübt,
ebenso wie der Umstand, daß der Sultan seine Würde als Herr der
ganzen muselmanischen Welt verloren hat, wird das osmanische Reich
auf den Stand eines Staates zweiten Ranges herabdrücken. Über die
Erklärung Asquiths bezüglich der Zukunft der Meerengen erklärte
der russische Minister, die bei Beginn des Krieges von den drei Mächten
gefaßten, Rußland besonders angehenden Entschließungen sicherten
Rußland vollständig die Erfüllung seiner Jahrhunderte alten
nationalen Wünsche. 2)
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