Beschlüsse
über einen allgemeinen Frieden auf der Konferenz in Brest-Litowsk
Neue
zehntägige Frist für die Ententemächte - "Ohne gewaltsame
Gebietserwerbungen und ohne Kriegsentschädigungen"
Brest-Litowsk,
25. Dezember.
In der Sitzung vom 22. d. M. hatte die russische Delegation
vorgeschlagen, den Friedensverhandlungen folgende sechs Punkte
zugrunde zu legen:
1. Es wird keine gewaltsame Vereinigung von Gebieten gestattet, die
während des Krieges in Besitz genommen sind. Die Truppen, die diese
Gebiete besetzt halten, werden in kürzester Frist zurückgezogen.
2. Es wird in vollem Umfange die politische Selbständigkeit der
Völker wiederhergestellt, die ihre Selbständigkeit in diesem
Kriege verloren haben.
3. Den nationalen Gruppen, die vor dem Kriege politisch nicht
selbständig waren, wird die Möglichkeit gewährleistet, die Frage
der Zugehörigkeit zu dem einen oder dem anderen Staat oder ihrer
staatlichen Selbständigkeit durch Referendum zu entscheiden. Dieses
Referendum muß in der Weise veranstaltet werden, daß volle
Unabhängigkeit bei der Stimmenabgabe für die ganze Bevölkerung
des betreffenden Gebietes einschließlich der Auswanderer und
Flüchtlinge gewährleistet ist.
4. In bezug auf Gebiete gemischter Nationalität wird das Recht der
Minderheit durch ein besonderes Gesetz geschützt, das ihr die
Selbständigkeit der nationalen Kultur und - falls dies praktisch
durchführbar - autonome Verwaltung gibt.
5. Keines der kriegführenden Länder ist verpflichtet, einem
anderen Lande sogenannte "Kriegskosten" zu zahlen; bereits
erhobene Kontributionen sind zurückzuzahlen. Was den Ersatz der
Verluste von Privatpersonen infolge des Krieges anbetrifft, so
werden sie aus einem besonderen Fonds beglichen, zu dem die
Kriegführenden proportional beitragen.
6. Koloniale Fragen werden unter Beachtung der unter 1 bis 4
dargelegten Grundsätze entschieden.
In der heute unter dem Vorsitz des bevollmächtigten Vertreters
Österreich-Ungarns, Grafen Czernin abgehaltenen Plenarsitzung gab
dieser namens der Delegation des Vierbundes eine Erklärung ab, in
der er u. a. sagte:
Die Delegationen der Verbündeten sind in Übereinstimmung mit dem
wiederholt kundgegebenen Standpunkt ihrer Regierungen der Ansicht,
daß die Leitsätze des russischen Vorschlags eine diskutable
Grundlage für einen solchen Frieden bilden können.
Die Delegationen des Vierbundes sind mit einem sofortigen
allgemeinen Frieden ohne gewaltsame Gebietserwerbungen und ohne
Kriegsentschädigungen einverstanden.
Es muß aber ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß sich
sämtliche jetzt am Kriege beteiligten Mächte innerhalb einer
angemessenen Frist ausnahmslos und ohne jeden Rückhalt zur
genauesten Beobachtung der alle Völker in gleicher Weise bindenden
Bedingungen verpflichten müssen, wenn die Voraussetzungen der
russischen Darlegung erfüllt sein sollen.
Eine gewaltsame Aneignung von Gebieten, die während des Krieges
besetzt worden sind, liegt nicht in den Absichten der verbündeten
Regierungen.
Es liegt nicht in der Absicht der Verbündeten, eines der Völker,
die in diesem Kriege ihre politische Selbständigkeit verloren
haben, dieser Selbständigkeit zu berauben.
Die Frage der staatlichen Zugehörigkeit nationaler Gruppen, die
keine staatliche Selbständigkeit besitzen, kann nach dem
Standpunkte der Vierbundmächte nicht zwischenstaatlich geregelt
werden. Sie ist im gegebenen Falle von jedem Staat mit seinen
Völkern selbständig auf verfassungsmäßigem Wege zu lösen.
Desgleichen bildet nach Erklärungen von Staatsmännern des
Vierbundes der Schutz des Rechts der Minoritäten einen wesentlichen
Bestandteil des verfassungsmäßigen Selbstbestimmungsrechts der
Völker. Auch die Regierungen der Verbündeten verschaffen diesem
Grundsatze, soweit er praktisch durchführbar erscheint, überall
Geltung.
Die verbündeten Mächte haben mehrfach die Möglichkeit betont,
daß nicht nur auf den Ersatz der Kriegskosten, sondern auch auf den
Ersatz der Kriegsschäden wechselseitig verzichtet werden könnte.
Hiernach würden von jeder kriegführenden Macht nur die
Aufwendungen für ihre in Kriegsgefangenschaft geratenen
Angehörigen sowie die im eigenen Gebiet durch völkerrechtswidrige
Gewaltakte den Zivilangehörigen des Gegners zugefügten Schäden zu
ersetzen sein.
Die Rückgabe der während des Krieges gewaltsam in Besitz
genommenen Kolonialgebiete ist ein wesentlicher Bestandteil der
deutschen Forderungen, von denen unter keinen Umständen abgegangen
werden kann. Ebenso entspricht die russische Forderung der
alsbaldigen Räumung solcher vom Feinde besetzten Gebiete den
deutschen Absichten. Bei der Natur der deutschen Kolonialgebiete
scheint, von den früher erörterten grundsätzlichen Erwägungen
abgesehen, die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts in den von der
russischen Delegation vorgeschlagenen Formen zurzeit nicht
durchführbar.
Die von der russischen Delegation im Anschlusse an die eben
erörterten sechs Punkte vorgeschlagenen Grundsätze für den
wirtschaftlichen Verkehr finden die uneingeschränkte Zustimmung der
Delegationen der verbündeten Mächte.
In Erwiderung hierauf erklärte der Führer der russischen
Delegation nach längerer Debatte, die Delegation sei trotz noch
bestehender Meinungsverschiedenheiten der Ansicht, daß die in der
Antwort der Mächte des Vierbundes enthaltene offene Erklärung,
keine aggressiven Absichten zu hegen, die faktische Möglichkeit
biete, sofort zu Verhandlungen über einen allgemeinen Frieden unter
allen kriegsführenden Staaten zu schreiten. Mit Rücksicht hierauf
schlägt die russische Delegation eine zehntägige Unterbrechung der
Verhandlungen vor, beginnend heute abend und endigend am 4. Januar
1918, damit die Völker, deren Regierungen sich den hier geführten
Verhandlungen über einen allgemeinen Frieden noch nicht
angeschlossen haben, die Möglichkeit geboten wird, sich mit den
jetzt aufgestellten Prinzipien eines folgen Friedens bekanntzumachen.
Nach Ablauf dieser Frist müssen die Verhandlungen unter allen
Umständen fortgesetzt werden.
Der Führer der russischen Delegation sprach seine Bereitwilligkeit
aus, sogleich in die Besprechung jener Einzelheiten einzutreten, die
auch für den Fall allgemeiner Friedensverhandlungen den Gegenstand
spezieller Erörterungen zwischen Rußland und den vier Verbündeten
zu bilden hätten.
Auf Antrag des Staatssekretärs v. Kühlmann wurde einstimmig
beschlossen, zur Vermeidung jeglichen Zeitverlustes und in
Würdigung der Wichtigkeit der zu erfüllenden Aufgabe, diese
Verhandlungen schon morgen vormittag zu beginnen. 1) |