Der russische Raubzug gegen Memel 

 

Bericht aus dem deutschen Großen Hauptquartier vom 25. März 1915

Am Donnerstag, den 18. März, rückten die Russen, gleichzeitig von Norden und Osten kommend, in mehreren Kolonnen gegen Memel vor. Es waren sieben Reichswehr-Bataillone mit sechs bis acht älteren Geschützen, einige Reichswehr Eskadrons, zwei Kompanien Marine-Infanterie, ein Bataillon des Reserve-Regiments Nr. 270 und Grenzwachtruppen aus Riga und Libau, im ganzen 6000 bis 10000 Mann.
Der unterlegene deutsche Landsturm zog sich von der Grenze auf Memel zurück und mußte schließlich auch durch die Stadt und über das Haff und die Nehrung zurückgehen.
Die Russen sengten an den Vormarschstraßen von Nimmersatt und Naugallen zahlreiche Gebäude nieder, vor allem Scheunen. Im ganzen wurden 15 Ortschaften schwer geschädigt. Eine erhebliche Anzahl von Landeseinwohnern, auch Frauen und Kinder, wurden nach Rußland fortgeschleppt, eine Anzahl Einwohner erschlagen.
Am Abend des 18. zogen die Russen in Memel ein. Die Truppen wurden hauptsächlich in den Kasernen untergebracht.
Am Freitag abend erschien der russische Kommandant im Rathaus, forderte den Oberbürgermeister und später noch drei weitere Bürger als Geiseln und ließ sie in die Kasernen, die von den Russen bereits in einen unglaublichen Zustand versetzt waren, bringen. In den Straßen der Stadt trieben sich plündernde Trupps russischer Soldaten herum, verhafteten Einwohner, drangen in die Häuser ein, zerschlugen die Fensterscheiben, plünderten und raubten Lebensmittelgeschäfte, zwei Uhrmacherläden und einen Juwelierladen vollständig aus. In drei Fällen sind Vergewaltigungen weiblicher Personen bisher festgestellt worden. Brände und Hauszerstörungen haben sich im allgemeinen nicht ereignet. Die Nachricht, daß sich russischer Pöbel an den Ausschreitungen beteiligte, hat sich nicht bestätigt. Der russische Kommandant, dem das wüste Treiben seiner Leute anscheinend selbst ungeheuerlich schien, suchte Einhalt zu gebieten, indem er die plündernden Truppen in die Kasernen zurückschicken und schließlich die Kasernentore schließen ließ.
Am Samstag Vormittag war die Stadt selbst bis auf Patrouillen frei von russischen Soldaten. Am Samstag Abend zogen die Russen ab. Nur einzelne versprengte Trupps blieben in Memel zurück. Diese wollten bereits ihre Gewehre auf dem Rathaus abliefern, als am Sonntag Nachmittag von neuem russische Kräfte von Norden her in die Stadt einrückten. Sie stießen in Memel bereits auf deutsche Patrouillen, denen stärkere deutsche Truppen von Süden her folgten. In einem energischen Angriff, bei dem sich das Bataillon Nußbaum vom Ersatzregiment Königsberg besonders auszeichnete, warfen sie die Russen aus Memel heraus. Bei dem heftigen Straßenkampf verloren die Russen etwa 150 Tote. Unsere Verluste waren gering. Beim Zurückgehen rissen die Russen ihre nachkommenden Verstärkungen in die Flucht mit. Die Geiseln waren bei dem Herannahen unserer Truppen unter Bedeckung nordwärts abgefahren. Bei dem Königswäldchen blieb der Wagen stecken, die Begleitmannschaften flüchteten. Die verhafteten Bürger suchten nach Memel zurückzukommen. Hierbei fiel der Bürgermeister Pockels zu Boden und wurde liegend von flüchtenden russischen Soldaten durch Bajonettstiche schwer verletzt.
Die Russen flohen, ohne Widerstand zu leisten, und wurden am 22. und 23. energisch verfolgt. Besonders beim Durchmarsch durch Polangen erlitten sie durch das Geschützfeuer unserer Kreuzer, die sich an der Verfolgung beteiligten, schwere Verluste. Es fielen 500 Gefangene, drei Geschütze, drei Maschinengewehre und Munitionswagen in unsere Hand.
Die russische Unternehmung gegen Memel kennzeichnet sich als ein Raubzug, bei dem es von vornherein weniger auf einen militärischen Erfolg, als auf Beute und Verwüstung ankam. Ein gleicher Raubzug scheint gegen Tilsit geplant gewesen zu sein. Der russische Kommandant fragte den Oberbürgermeister am Freitag abend, wie es in Tilsit aussähe, und war sehr erstaunt zu hören, daß diese Stadt sich in den Händen der Deutschen befinde.
Bei den deutschen Truppen die Memel säuberten, befand sich der jüngste Sohn Sr. Majestät des Kaisers, Prinz Joachim von Preußen. Er wurde überall, wo er erkannt wurde, von der Bevölkerung freudig begrüßt.

 

Berichte aus dem deutschen Großen Hauptquartier 1914-1918

HAUPTSEITE

 

© 2005 stahlgewitter.com