Reichskanzler
Graf Hertling zur Friedensfrage
Die
mißglückte Offensive - Belgien - Der Völkerbund
Graf Hertling
Berlin,
24. September.
In der heutigen Sitzung des Hauptausschusses des Reichstages
sagte der Reichskanzler Graf Hertling in längerer Rede u. a.:
"Wie Ihnen bekannt ist, hat sich weiter Kreise der Bevölkerung
eine tiefgehende Verstimmung bemächtigt. Wenn die Mißstimmung
durch unsere gegenwärtige militärische Lage, durch die Ereignisse
an der Westfront beeinflußt ist, so muß ich mit allem Nachdruck
erklären, daß sie weit über das berechtigte Maß hinausgeht.
Gewiß, unsere letzte großangelegte Offensive hat uns nicht den
erhofften Erfolg gebracht, das muß ohne weiteres zugegeben werden.
Die Heeresleitung hat sich veranlaßt gesehen, unsere weit
vorgeschobenen Linien auf die sogenannte Siegsried-Stellung
zurückzunehmen. Die Lage ist ernst, aber wir haben keinen Grund,
kleinmütig zu sein. Wir haben schon Schwereres durchzumachen
gehabt. Die hartnäckigen Durchbruchsversuche des Feindes werden
scheitern. Unsere Feldherren, Hindenburg und Ludendorff, werden sich
wie jeder früheren so auch der gegenwärtigen Lage gewachsen
zeigen, und der voreilige Siegesjubel der Feinde wird bald wieder
abflauen. Wir haben den Krieg vom ersten Tage an als einen
Verteidigungskrieg geführt. Nur um unserer Verteidigung willen sind
wir in Belgien eingerückt. Als wir in Belgien einrückten, haben
wir das geschriebene Recht verletzt, aber es gibt, wie für den
Einzelnen, so auch für die Staaten ein anderes Recht, das ist das
Recht der Selbstverteidigung und der Notwehr. Nachträglich haben
wir dann aus den belgischen Archiven ersehen, wie bedenklich es
längst vor Ausbruch des Krieges um die belgische Neutralität
bestellt war. Um unsere Verteidigung allein hat es sich bei allen
den weiteren Kämpfen gehandelt. Und in Frankreich, das nunmehr der
hauptsächlichste Kriegsschauplatz geworden ist, haben wir nie ein
Hehl daraus gemacht, daß uns jeder Gedanke an Eroberung fern liegt.
Die Lage ist ernst, aber zu tiefer Mißstimmung gibt sie keinen
Anlaß. Der eherne Wall an der Westfront wird nicht durchbrochen
werden, und der Unterseebootkrieg erfüllt langsam aber sicher seine
Aufgabe. Die Stunde wird kommen, weil sie kommen muß, wo auch die
Feinde zur Vernunft kommen und sich bereit finden werden, dem Kriege
ein Ende zu machen. Inzwischen gilt es, kaltblütig und
zuversichtlich, einheitlich und festgeschlossen zusammenzustehen.
Die Regierung will nur mit dem Volke und für das Volk arbeiten. Die
Staatsregierung ist fest entschlossen, die preußische
Wahlreformvorlage zur Annahme zu bringen und wird dabei vor keinem
ihr verfassungsmäßig zu Gebote stehenden Mittel
zurückschrecken."
Graf Hertling schloß:
"Bekanntlich hat der Präsident der Vereinigten Staaten in 14
Punkten die Richtlinien für einen Friedensschluß aufgestellt. Ich
habe am 24. Januar d. J. in Ihrem Ausschusse die sämtlichen Punkte
besprochen und zu dem letzten derselben bemerkt, daß mir der hier
angeregte Gedanke eines Völkerbundes durchaus sympathisch sei unter
der Voraussetzung, daß ehrlicher Friedenswille und die Anerkennung
des gleichen Rechtes aller Bundesstaaten gewährleistet sei. Herr
Wilson hat dann in einer Botschaft vom 11. Februar einen weiteren
Schritt in der gleichen Richtung unternommen und in 4 Punkten die
Grundsätze aufgestellt, welche seiner Meinung nach bei einem
gegenseitigen Meinungsaustausch Anwendung zu finden hätten. Ich
habe in meiner Reichstagsrede vom 25. Februar mich im Prinzip damit
einverstanden erklärt, daß ein allgemeiner Friede auf solcher
Grundlage erörtert werden könne, Herr Wilson hat aber weder
damals, noch später hiervon Notiz genommen. Ich nehme keinen
Anstand, mich heute nochmals zu dieser Frage zu äußern und in
aller Kürze auf Ziel und Grundlage eines solchen Verbandes
hinzuweisen. Es handelt sich um die Forderung einer allgemeinen,
gleichmäßigen und sukzessiven Abrüstung, um die Errichtung
obligatorischer Schiedsgerichte, um die Freiheit der Meere, um den
Schutz der kleinen Nationen. Was den ersten Punkt betrifft, so habe
ich schon am 24. Januar unter Berufung auf früher abgegebene
Erklärungen den Gedanken einer Rüstungsbeschränkung als durchaus
diskutabel bezeichnet und dabei hinzugefügt, daß die Finanzlage
sämtlicher europäischer Staaten nach dem Krieg einer
befriedigenden Lösung dieser Frage die wirksamste Unterstützung
leihen würde. Wenn es gelänge, eine internationale Verständigung
dahin zu treffen, daß strittige Rechtsfragen zwischen verschiedenen
Staaten stets einem Schiedsgerichte vorgelegt werden müßten und
dies den Gliedern des Völkerbundes zur Pflicht gemacht würde, so
wäre dies ohne Zweifel ein bedeutsamer Schritt zur Erhaltung des
allgemeinen Friedens. Über die Freiheit der Meere habe ich mich
schon früher geäußert; sie bildet eine notwendige Voraussetzung
für den uneingeschränkten Verkehr der Staaten und Völker. Hier
aber werden, selbstverständlich nicht auf unserer Seite, die
größten Schwierigkeiten gemacht werden. Als ich seinerzeit diesen
Punkt berührte und auf die Konferenzen hinwies, welche von einer
ehrlichen Durchführung verlangt würden, also ungehemmter Zugang
für alle Nationen zu den Binnenmeeren, keine Vormachtstellung
Englands in Gibraltar und Malta wie am Suezkanal, hat eine englische
Zeitung dies als Unverschämtheit bezeichnet. Endlich der Schutz der
kleinen Nationen. Hier können wir sofort und ohne Vorbehalt
feststellen, daß wir ein reines Gewissen haben." 1) |